Bürgerschaftliches Engagement Älterer für die Kultur – Vielfalt der Formen und Anforderungen
1999 überraschte Wim Wenders mit dem mittlerweile zum Kultfilm avancierten „Buena Vista Social Club“. Er zeigt darin eine Welt, die zum Schöner, Weiter und Mehr des grassierenden Eventmarketings das genaue Gegenteil bildet: Die Fassaden der kolonialen Villen Havannas sind zerbröselt, die amerikanischen Straßenkreuzer der 1950er und -60er Jahre rumpeln nur noch als farbenfrohe Schrotthaufen über die zerlöcherten Straßen. Und vor dieser Kulisse, die die ehemals hoffnungsfrohen Zeichen des Kapitalismus und Kommunismus in stetem Verfall zeigt, spielen entspannt einige ältere Herren und Damen eine unwiderstehlich sehnsuchtsvolle Musik. Kein Traum von Jugend, von Fortschritt, vom dauernden Überschreiten der Grenzen, aber eben auch keine Verzweiflung, die sich deshalb breit machen müsste, sondern ein Lebensgefühl, das die bescheidenen Möglichkeiten im Hier und Jetzt auskostet.
Etwa zehn Jahre später reüssierte der Film „Young at Heart“ über einen Seniorenchor in Massachusetts. In den tristen Bungalowsiedlungen Northamptons ballt sich eine ungeahnte Kraft von Freude und Begeisterung, die sich aus dem Songbook der jüngeren Generationen speist: Von Coldplay oder Sonic Youth stammen die Stücke, die so authentisch und doch mit Augenzwinkern von 80-, ja 90-Jährigen unter Begeisterungsstürmen auf der Bühne zelebriert werden.
Mittlerweile scheint sich aus der Idee ein Genre zu entwickeln. Seniorinnen und Senioren als Kulturbotschafter, beispielsweise in Venessa Redgraves neuestem Film „Song for Marion“ oder in Dustin Hofmans „Quartett“ über alternde Opernsänger, die es nochmal wissen wollen und ihre Lebenskrisen durch Kunst überwinden.
Weitere Genres scheinen sich gerade auszubilden. Die Literatur der Selbsterkenntnisprozesse älterer Männer beispielsweise. Martin Walser hat mit Eugen Ruge, Uwe Timm oder Botho Strauß veritable Konkurrenz bekommen. Viele Rockstars, die heute noch Stadien füllen, kokettieren mit ihrem Alter. Mick Jagger wurde vor kurzem siebzig, und Keith Richards hat seine Geburtstagsparty verpasst, weil er im Hotelzimmer eingeschlafen war.
Kultur, Alter, Bürgerschaftliches Engagement sind die drei Großbegriffe, die ich etwas umkreisen möchte. Es geht mir um ihre Verbindungen, nicht um ihre Alleinstellungsmerkmale: Um eine Kultur des Alters, um das Bürgerschaftliche Engagement im Kulturbereich, insbesondere der Älteren. Nachdem ich in der Vorbereitung vermutete, dass Prof. Kruse das Alter in den Mittelpunkt seiner Argumente rücken wird, werde ich zunächst auf die Kultur mein besonderes Augenmerk richten.
Kultur des Alters
„Jeder, der eine Wohnung einrichtet, jeder, der einen Garten anlegt, jeder, der morgens eine Garderobe auswählt, gibt einen kleinen Hinweis darauf, wie er sich die Welt wünscht." sagt Silvia Silvia Bovenschen in ihrem Buch übers Älterwerden. (Weibersterben. Silvia Bovenschen zeigt uns in "Nur Mut", wie man sich dem letzten Thema mit ironischer Leichtigkeit nähert. Von Marie Schmidt. Die Zeit vom 10.8.2013) Man kann sich keine bessere Definition von Kultur wünschen. Kultur nistet im Alltäglichen, aber sie ist zugleich in den Wünschen zuhause. Wenn wir beispielsweise von einer Kulturgeschichte, sagen wir des Telefons sprechen, so vermittelt sie einen anderen Blickwinkel als eine Technikgeschichte. Es geht dabei um die sozialen Praktiken und symbolischen Bezüge, aber auch Sehnsüchte und Hoffnungen, die sich mit diesem Gegenstand verbinden.
„Kultur ist nicht nur das, wovon wir leben. In erheblichem Maße ist es auch das, wofür wir leben. Liebe, Beziehungen, Erinnerung, Verwandtschaft, Heimat, Gemeinschaft, emotionale Erfüllung, geistiges Vergnügen, das Gefühl einer letzten Sinnhaftigkeit.“ definiert der Oxforder Kulturwissenschaftler Terry Eagleton (Eagleton 2001: 182). Das Selbstverständliche und Vertraute, die Plattformen unseres Alltagslebens werden zum Ausgangspunkt von Projekten, neue Aufbrüche führen zum Unerhörten, Ungewöhnlichen. Robert Musil nannte es den Möglichkeitssinn: Durch die veränderte Sicht geraten schließlich auch die Verhältnisse selbst in Bewegung.
So geht es seit etwa zwanzig oder dreißig Jahren mit einer Kultur des Alters. Wir haben eine wahre Revolution erlebt, woran der hoch geschätzte Prof. Kruse seinen verdienten Anteil hat. Alter soll nicht mehr nach seinen Defiziten, sondern nach seinen Chancen und Potenzialen beurteilt werden. Prof. Kruses akademische Lehrerin Ursula Lehr drückte das vor mittlerweile zwanzig Jahren so aus: „Millionen von älteren Menschen brauchen eine Aufgabe und eine als sinnvoll erlebte Betätigung. Sie wollen sich nicht mit Seniorennachmittagen verbasteln oder gelegentlich mit Kaffee und Kuchen abspeisen lassen.“ Die Botschaft ist mittlerweile in den Altenberichten der Bundesregierung zur unumstößlichen Gewissheit gereift. Und doch, so muss man sagen, hinkt die Realität der Institutionen den Wünschen und Expertenempfehlungen noch gewaltig hinterher, etwa im Kulturbereich.
Meine These ist: Wir sind mit unseren Vorstellungen eines neuen, aktiven, engagierten Alters noch nicht in den Strukturen des Kulturbetriebs und der Kulturpolitik angekommen. Wir leben in Zeiten der Modellprojekte. Sie liefern Blaupausen dafür, was möglich wäre. Aber die Wirklichkeit haben sie noch nicht durchdrungen. Vor allem die in den professionell geführten Einrichtungen.
Widrigkeiten des Kulturbetriebs
Die These ist natürlich stark und, zugegeben, ein wenig überzeichnet. Menschen, vor allem ältere, die sich im Kulturbetrieb engagieren, gibt es viele. Das ist schon von der Zahl her imposant. Kunst, Kultur, Musik gehören zu den attraktivsten Gelegenheitsstrukturen des Bürgerschaftlichen Engagements in Deutschland. Laut Freiwilligensurvey 2009 liegt dieser Engagementbereich nach Sport und Geselligkeit auf den vorderen Plätzen. Dies gilt zum einen für die Zahl der bürgerschaftlich Tätigen (5,2 Prozent der Über-14-Jährigen Bevölkerung = vierter Platz) zum anderen für den Anteil der in diesem Bereich gesellschaftlich Aktiven (18 Prozent der Über-14-Jährigen Bevölkerung = dritter Platz).
Das Institut für Kulturpolitik der Kulturpolitischen Gesellschaft hat das Bürgerschaftliche Engagement in der Kultur immer wieder untersucht. Demnach blüht es vor allem dort, wo rein ehrenamtliche Strukturen vorherrschen: In den kleinen Heimatmuseen, den ehrenamtlich betriebenen Bibliotheken und Amateurtheatern. In Bayern wird etwa die Hälfte der Nichtstaatlichen Museen ehrenamtlich geleitet. Von den 12.000 Bibliotheken in Deutschland sind 42% in kirchlicher Hand, das sind meist ganz kleine Einrichtungen, die fast ausschließlich ehrenamtlich betrieben werden. Es gibt etwa 1.600 Amateurtheatergruppen in Deutschland, und viele der ab den 1970er Jahren entstandenen soziokulturellen Zentren arbeiten bis heute mit Ehrenamtlichen (vgl. Ulrike Blumenreich 2005).
Ist also alles in Butter? Ich meine nicht. Eine interessante Zahl im Freiwilligensurvey gibt einen ersten Hinweis. Im Kulturbereich engagieren sich überdurchschnittlich viele Menschen (Freiwilligensurvey 2004) in Vereinen, nämlich 64 Prozent (gegenüber 43 Prozent im Durchschnitt). Man kann vermuten: Es sind weniger die öffentlichen Einrichtungen mit einer Vielzahl Hauptamtlicher, sondern meist kleinere, privat organisierte und gemeinwohlorientierte Initiativen, in denen sich das Bürgerschaftliche Engagement abspielt. Dies bestätigt auch der Bericht der Bundes-Enquetekommission „Kultur in Deutschland“. Die großen Museen, Theater, aber auch die Büchereien und Volkshochschulen der Großstädte tun sich oft schwer, Ehrenamtliche einzubeziehen. Wir finden nur sehr selten die den US-amerikanischen Kultureinrichtungen eigene Selbstverständlichkeit, mit Volunteers zu arbeiten. So steht kritisch in dem schon erwähnten Bericht der Enquetekommission über den Kulturbereich: „Bemerkenswert ist, dass das Zeitspendenangebot in Deutschland die Zeitspendennachfrage übersteigt. Dieses Missverhältnis ist in den letzten Jahren eher gewachsen als geschrumpft.“ (Enquetekommission:180) Das spricht für zweierlei: Die Bereitschaft zum Engagement im Kulturbereich hat deutlich zugenommen. Aber es gibt zu wenige qualifizierte Einsatzplätze. Diese Aussagen verwundern kaum jemand, der schon einmal versucht hat, sich einer hauptamtlich geführten Bibliothek oder einem großen Museum als ehrenamtlicher Mitarbeiter anzudienen. Natürlich gibt es Ausnahmen wie das Freilichtmuseum am Kiekeberg bei Hamburg oder das Deutsche Museum in München, die schon seit Jahren ein beeindruckendes Freiwilligenmanagement vorweisen können.
Rühmliche Ausnahmen sind auch die Fördervereine, die in den letzten Jahrzehnten stark gewachsen sind, parallel zur chronischen Geldknappheit der Kultureinrichtungen. Hier sind die älteren Aktivbürger durchaus gern gesehen. Und sie bilden mittlerweile den Großteil des Publikums. Fast überall in den großen Kultureinrichtungen dominieren die Älteren. Experten sprechen von „Konzerten im Silbersee“. Die Zahl der Unter 40-jährigen Besucher eines Opernhauses hat sich seit Mitte der 1960er Jahre von 58% auf 26% mehr als halbiert (Norbert Sievers: Kulturelle Teilhabe als Voraussetzung und Ziel aktivierender Kulturpolitik. Fakten und Trends aus der empirischen Kultur- und Publikumsforschung. Vortrag auf der Tagung „Kultur bewegt“ in der Ev. Akademie Tutzing vom 22. bis 24. Februar 2008).
Ästhetikprofessor Bazon Brock kann dieser demografischen Verschiebung auch gute Seiten abgewinnen. So sagte er einmal auf einer Podiumsdiskussion zum Thema Alter und Kultur: „Wer, außer den Älteren, sollte denn die Zeit haben, die dickleibigen Ausstellungskataloge zu lesen.“
Die Rolle der Älteren als Publikum und Förderkreismitglieder ist also gern gesehen. Dagegen ist ja gar nichts einzuwenden. Davon lebt Kunst und Kultur natürlich auch. Aber die Rolle des aktiven, engagierten älteren Menschen, der sich in das kulturelle Leben einbringen möchte, scheint in den größeren, hauptamtlich geführten Instituten weniger Beachtung zu finden.
Für diese Distanz möchte ich einige Gründe anführen. Sie sind nicht von der Hand zu weisen, weil sie auf Eigenarten des Kulturbetriebes beruhen. Im anschließenden Teil möchte ich aber das ganze positiv wenden und Anknüpfungspunkte zwischen neuem Altersbild, Bürgerschaftlichen Engagement und Kultur aufzeigen. Ich werde kurz drei Kulturbegriffe darlegen und anhand von mich persönlich beeindruckenden Beispielen aufzeigen, wie man ihnen Leben einhauchen kann. Abschließend möchte ich ein Plädoyer dafür halten, dass kulturelle Aktivitäten im engagementpolitischen Diskurs ein größeres Gewicht erhalten müssen, um ein Gegengewicht gegen aktuelle Tendenzen der Indienstnahme des Bürgerschaftlichen Engagements zu schaffen.
Warum tut sich der Kulturbereich mit dem Bürgerschaftlichen Engagement schwer?
Warum tun sich vor allem große Kultureinrichtungen in Deutschland so schwer, das Bürgerschaftliche Engagement, nicht nur Älterer, aktiv und konstruktiv einzubeziehen. In den USA beispielsweise bildet das Volunteering an allen größeren Museen eine eigene Abteilung mit professionellen Volunteermanagement. Das ist hierzulande nicht der Fall. Es gibt einige rühmliche Ausnahmen. Ich hatte das Freilichtmuseum am Kiekeberg in der Lüneburger Heide erwähnt (Staudenmayer, Ruth/Peper, Lars 2003: 63-68). Der dort angewandte erlebnisorientierte Präsentationsansatz bezieht Ehrenamtliche mit unterschiedlichsten Kompetenzen und Erfahrungen ein. Die Museumsleistung führt eine Kartei mit über hundert Ehrenamtlichen, die zum Beispiel in der Museumsimkerei, dem Museumsladen, der Schmiede, im Kassenbereich oder bei Sonderaktionen eingesetzt werden. In der Vielfalt der Aktivitäten fällt es nicht schwer, das Passende zu finden. Es gibt eine ausgebaute Anerkennungskultur mit Treffen, Vereinsfesten und Fortbildungen. Den Ehrenamtlichen steht eine hauptamtliche Ansprechperson stets zur Seite. Aber wie gesagt. Das ist eine rühmliche und in der Literatur immer wieder zitierte Ausnahme. Es gibt starke hemmende Faktoren für eine stärkere Einbeziehung Ehrenamtlicher, die in zum Teil langjährig verfestigten Strukturen des Kulturbereichs zu suchen sind:
Professionalisierung, Verstaatlichung
Viele der uns vertrauten Kultureinrichtungen sind aus bürgerschaftlichen Initiativen hervorgegangen: Kunstmuseen wie der Städel in Frankfurt oder die Kunsthalle Hamburg, Volkshochschulen, Volksbühnen, Heimatmuseen, soziokulturelle Zentren und viele andere mehr. Aber je größer und erfolgreicher die Einrichtungen werden, desto stärker werden sie professionalisiert. Damit ist eine Verdrängung der ehrenamtlichen Basisstrukturen verbunden. In der Weimarer Republik und vor allem im Dritten Reich wurden viele Kultureinrichtungen in staatliche und kommunale Trägerschaft überführt. Dieser Trend setzt sich in der Bundesrepublik fort. Damit verbunden spielte die finanzielle Seite des Bürgerschaftlichen Engagements, also die Gründung von Stiftungen, Förderkreisen, das Mäzenatentum von Einzelnen in der Kultur eine bedeutendere Rolle als das Bürgerschaftliche Engagement als Zeit- oder Wissensspende, das eher an den Rand gedrängt wurde.
Laienkultur
Die im Sozialbereich übliche Unterscheidung von Hauptamt und Ehrenamt wird im Kulturbereich durch die weitere Differenz zwischen professionellem Künstlertum und Laientum noch verstärkt. In dieser Hinsicht ist das Bürgerschaftliche Engagement im Kulturbereich am ehesten mit der katholischen Kirche vergleichbar. Künstler haben den Anspruch, ihren Lebensunterhalt mit Kunst zu sichern. Dazu gehört die Überzeugung (ein seit der Romantik tradiertes Künstlerbild) sich ganz und gar der Berufung der Kunst hinzugeben, um sich vom Laiendarsteller und der Feierabendmalerin abzusetzen. Der Bereich der Laien- oder Amateurkultur ist in Deutschland daher auch institutionell stark vom Bereich der „professionellen Kultur“ geschieden.
Selbstausbeutung und Markt
Während wir relativ stabile Arbeitsbedingungen im Sozial-, Bildungs- oder Gesundheitsbereich vorfinden, ist dies im Kulturbereich nicht der Fall. Diejenigen, auf die es eigentlich im Kern ankommt: Musiker/innen, bildende Künstler/innen, Schauspieler/innen etc. müssen sich oft mit einen Entlohnung begnügen, die nicht höher liegt als ehrenamtliche Aufwandsentschädigungen (vgl. Thomas Röbke: 2000). Vor diesem Hintergrund ist die Trennung Haupt- und Ehrenamtlichkeit massiv verwischt von prekären, selbstausbeuterischen Beschäftigungsverhältnissen. Hierzu ein konkretes Beispiel: In einem großen kulturhistorischen Museum gab es schon in den 1980er Jahren einen Stamm von Ehrenamtlichen, die sich nach ihrer Verrentung oder nach der Familienpause unentgeltlich engagierten. Als das Studium der Kunstgeschichte in den 1990er Jahren wieder an Attraktivität gewann, stießen junge Studierende zu dieser Gruppe, die die Absicht hegten, über dieses Ehrenamt ein wenig Geld zu verdienen, berufsfördernde Erfahrungen zu sammeln oder gar in eine Festanstellung zu kommen. Diese Interessensvielfalt ging auf Dauer nicht unter einen Hut. Das Museum setzte voll auf die jüngeren Honorarkräfte und unterstützte ihr berechtigtes Interesse nach Honorierung und Qualifizierung. Die ältere Gruppe an Ehrenamtlichen wurde mit der Zeit kleiner. Das Museum unterließ es, Nachfolger für ausgeschiedene Ehrenamtliche zu suchen.
Wege der Kulturpolitik
Die öffentliche Kulturpolitik, betrieben vor allem von Städten, aber auch von Land und Bund, hat in den letzten Jahrzehnten einen wichtigen Paradigmenwechsel vollzogen. Dominierten die 1970er und -80er Jahre noch Ansätze einer „Kultur für alle“ oder eines „Bürgerrechtes Kultur“, die den Volksbildungs- und bürgerschaftlichen Gestaltungsauftrag von Kunst und Kultur in den Fokus rückten, so verlagerten sich in den letzten zwanzig Jahren die Schwerpunkte auf ökonomisch geprägte Themen: In den 1990er Jahren war vom Standortfaktor Kultur die Rede oder von Umweg-Rentabilität, die Defizite großer Festivals in Gewinne der örtlichen Gastronomie verwandelten. Es ging um die Prägung kultureller Marken und weithin sichtbare kultureller Leuchttürme, um große Events und spektakuläre Ausstellungen. Sie sollten zu Trümpfen in der Konkurrenz der Städte und Regionen um Unternehmensansiedlungen (Stichwort: Kultur als weicher Standortfaktor) werden und gleichzeitig Touristenströme anlocken. Schließlich ging es um die Ansiedlung kreativer Milieus, die die lokale Kreativwirtschaft ankurbeln sollten.
Die Stimme des Bürgerschaftliche Engagements im Kulturbereich ist dabei in der Kulturpolitik nicht verstummt, aber sie ist sehr viel leiser geworden.
Für ein neues und altes Kulturverständnis aktiver Bürgerschaft – drei Anknüpfungspunkte
Es gibt retardierende Kräfte, die man ernst zu nehmen hat. Die Ansprüche auf anständige Bezahlung von Künstlerinnen und Künstlern beispielsweise sind zu achten. Unentgeltliches, freiwilliges Engagement kann dies unterminieren. Deswegen sollte es immer in Ergänzung zum Kerngeschäft auftreten und sich in keinen Verdrängungswettbewerb hineinziehen lassen. Paradigmen der Kulturpolitik können sich verändern, und vielleicht ist jetzt auch der richtige Zeitpunkt gekommen, von ökonomisch aufgeblähten Erwartungen wieder Abstand zu nehmen. Man muss darum kämpfen, die Verbindung gelebter Kultur und bürgerschaftlicher Beteiligung, auf die kulturpolitische Konzepte wie „Kultur für alle“ Wert legen, wieder stärker ins Bewusstsein zu rücken. Remscheid, die dortige Akademie und weitere Einrichtungen wie das IBK sind dafür ein guter, traditionsreicher Ort.
Ich möchte drei Kulturbegriffe als Anknüpfungspunkte einer Verbindung eines neuen Altersbildes, gelungener Ansätze des Bürgerschaftlichen Engagements und kultureller Aktivität in den Mittelpunkt rücken. Sie wurden von der schon erwähnten Enquetekommission „Kultur in Deutschland“ vor allem im Kapitel 1 „Die Bedeutung für Kunst und Kultur für Individuum und Gesellschaft“ (Enquetekommission: 47 ff.) nochmals in Erinnerung gerufen. An drei konkreten kulturellen Engagementprojekten Älterer möchte ich illustrieren, wie sie mit Leben erfüllt werden können.
Der erste Kulturbegriff wurzelt in den Ideen der deutschen Aufklärung, namentlich der Ästhetik Friedrich Schillers. Kultur ist ihrem Wesen nach das freie Spiel, bei dem der Mensch ganz bei sich sein kann und sich nicht außen gesetzten Zwängen und Zwecken unterordnen muss. In den 1970er Jahren wurde diese klassische Kulturvorstellung von der kommunalen Kulturpolitik aufgegriffen. Schiller habe vom Ziel her recht, so der damalige Tenor, aber Kulturpolitik müsse sich vor allem der Aufgabe widmen, die Zugangswege zur Kultur zu ebnen. Sie hat darauf zu achten, dass alle Menschen die Möglichkeit haben, an Kultur teilzuhaben. Dazu gehört nicht nur politische Freiheit, sondern auch materielle Gerechtigkeit. Deshalb muss zum Beispiel der Eintritt in die Kultureinrichtungen für alle bezahlbar sein.
Ein zweites Anliegen ist es, die großen Kultureinrichtungen sozusagen vom Sockel zu holen. Theater und Museen sind öffentliche Räume und nicht nur der Tummelplatz einer kunstsinnigen Elite. Das Motto der damaligen Kulturpolitik lautete: „Kultur für alle“. Es ist ein Emanzipationsversprechen, noch heute. Vor allem für die Durchsetzung eines neuen Altersbildes bietet es Chancen.
Red Reading and Reminiscence Box Project: Comunity Service Volunteers, eine englandweit agierende Freiwilligenorganisation, hat in Kent und Medway gemeinsam mit den öffentlichen Bibliotheken das „Red Reading and Reminiscence Box Project“ ins Leben gerufen. Freiwillige bringen von den Bibliotheken zusammengestellte rote Boxen mit Büchern, Zeitschriften, CD und DVD zu Menschen, die in ihrer Mobilität eingeschränkt sind und kaum mehr das Haus verlassen können. Bei ihren Besuchen knüpfen sie zunächst über die mitgebrachten Medien Kontakt. Sie lesen vor, hören sich gemeinsam Musik an, reden über Gedichte usw. Die besuchte Person kann für das nächste Zusammentreffen eigene Wünsche äußern. Die Bibliotheken versuchen, diese zu erfüllen. So werden die roten Boxen immer individueller ausgestattet. Die Freiwilligen aus allen Altersgruppen betonen, dass der Einstieg über das kulturelle Medium ein unglaublicher Türöffner für die persönliche Erinnerung ist. Die Älteren fühlen sich wieder in ein soziales Netzwerk einbezogen. Die Bibliotheken können ihren Aktionsradius durch das Freiwilligenprogramm erweitern. Sie sind nicht nur auf Kunden angewiesen, die zu ihnen kommen. Die Freiwilligen bringen die Zeit mit, die die hauptamtlichen Angestellten nicht aufbringen könnten. 2.000 Personen wurden bisher durch das Programm von hundert Volunteers erreicht (http://www.csv.org.uk).
Der zweite Kulturbegriff wurde in den letzten Jahren vor allem durch die UNESCO Convention on the Protection and Promotion of the Diversity of Cultural Expressions propagiert. Seine Besonderheit ist es, dass er unsere Aufmerksamkeit nicht nur auf eine, sondern auf die Vielfalt kultureller Traditionen lenkt, die in der globalisierten Welt immer enger zusammenrücken. Wir sollten aber die Vorstellung von der Vielfalt der Kulturen noch erweitern. Es geht nicht nur um verschiedene Herkunftsländer, sondern auch um verschiedene Lebensalter, die, gleichsam zeitlich geschichtet, unterschiedliche Kulturen ausgebildet haben. Oft leben diese Lebensalterskulturen nebeneinander her, als ob jede von ihnen von einem anderen Stern käme. Hier will die Vorstellung kultureller Vielfalt Verbindungen herstellen.
Community Dance: Brückenbau – das Community-Projekt des Stadttheaters Fürth wurde durch die Sängerin Jutta Czurda ins Leben gerufen. Sie startete einen Aufruf an die Bürgerinnen und Bürger ab 80 Jahren, ihrem Theater einen Teil ihrer ganz persönlichen Erinnerung zu schenken. Gesucht wurden Lieblingslieder und -gedichte und die Geschichten, die sich darum ranken. Engagierte ehrenamtliche "Paten" wurden in örtlichen Gymnasien oder durch die lokale Freiwilligenagentur gewonnen, setzten sich mit insgesamt zwanzig über 80-Jährigen zusammen und erlebten wunderbare Begegnungen. Sie fassten die Erinnerungen zusammen. So wurde eine bunte Vielfalt von Liedern und Gedichten zusammengetragen – darunter Klassisches wie "Wanderers Nachtlied" oder die "Mondnacht", Erinnerungen an die Kindheit mit "Der Mond ist aufgegangen", an den ersten Tanz zur "Himmelblauen Serenade" u.a.
Die Regisseurin und Choreografin Jean Renshaw hat all diese Lebenserinnerungen zu einer vielfältigen Collage verwoben. Daraus entstanden Tanz- und Bewegungsminiaturen, die Renshaw gemeinsam mit Laientänzern aus dem Projekt Brückenbau einstudierte. Die ambitionierten Laiendarsteller „näherten sich mit ihrem Tanz fremden Lebensgeschichten an, verkörpern die vielen Facetten dieser Erinnerungen und lassen die Bilder lebendig werden", so die Nürnberger Zeitung über die ungewöhnliche Tanzpremiere im Mai 2012. Das Ergebnis wurde auf der großen Bühne des Stadttheaters gezeigt. Die Geschichtenerzähler/innen waren natürlich anwesend.
Eine Reaktion einer 84-Jährigen nach dem Vorstellungsbesuch: "Erinnerung ist aufgeblüht und lebendig geworden durch die einfühlsame Darstellung und eine feinfühlige Choreografie - Leben aus einem ganz neuen Blickwinkel in liebevolles Licht getaucht!" Das Projekt verbindet nicht nur unterschiedliche Medien der mündlichen Erinnerung, sprachlichen Aufarbeitung zu Geschichten durch ehrenamtliche Patinnen und Paten sowie die szenische Darstellung durch eine professionell angeleitete Tanztruppe. Sie verknüpft auch Generationen zu einer künstlerisch produktiven Kette (Zitiert von der Webseite: www.stadttheater.fuerth.de).
Der dritte Kulturbegriff ist ein ganz alter, der derzeit wieder zu Ehren kommt: Die „ars vivendi“ oder Lebenskunst (vgl. Wilhelm Schmid:1998). Er geht von der existenziellen Überzeugung aus, dass wir unser Leben selbst zu gestalten haben und uns dazu bestimmte Techniken aneignen und Tugenden einüben müssen. Warum kommt diese Vorstellung heute wieder in Mode? Ich glaube, weil unsere Gesellschaft immer mehr ihre verlässlichen Leitplanken verliert. Wir können uns kaum mehr auf einen vorgezeichneten Lebensplan verlassen. Das eigene Leben zu führen wird zur subjektiven Leistung, zum Gestaltungsauftrag an sich selbst. Wir sind selbst verantwortlich für unsere mentale Beweglichkeit und unser körperliches Wohlbefinden. Viele Studien belegen, das kulturelle Betätigung den Erhalt geistiger und körperlicher Gesundheit begünstigt. Wer seine Potenziale ausschöpft, kann mit größerer Wahrscheinlichkeit mit einem bewussten Leben bis ins hohe Alter rechnen. Kultur ist daher ein wichtiger Baustein der Prävention.
Kulturführerschein: Der in Düsseldorf erfundene und mittlerweile auch in anderen Städten übernommene Kulturführerschein bietet gerade für jene Menschen, die sich in einer Umbruchphase befinden, sei es die Verrentung, sei es der endgültige Auszug der Kinder, ein kulturelles Orientierungsangebot. Was passt zu mir? Theater, Literatur, Film, Tanz. Die Fortbildung bietet Einblicke in verschiedene kulturelle Werkräume. Der Düsseldorfer Kulturführerschein wurde in enger Zusammenarbeit mit den Kultureinrichtungen in Düsseldorf (Schauspielhaus, Stadtmuseum, Kunstsammlung NRW, Theatermuseum, museum kunst palast) entwickelt und realisiert.
„Im Rahmen des Kulturführerschein-Programms sind in Düsseldorf im Überschneidungsbereich von Kultur- und Sozialarbeit zahlreiche selbst organisierte (Kultur-) Angebote entstanden, die auf die Bedürfnisse und Wünsche von Seniorinnen und Senioren zugeschnitten sind: beispielsweise Blauer Montag (Jour fixe im Düsseldorfer Schauspielhaus), Zeit für K.uns.T (Kunsttreff in der Kunstsammlung NRW), Operntreff und Düsseldorfer KulturHerbst.“ In München beispielsweise haben Absolventinnen des Kulturführerscheins Führungen für Sozialhilfeempfänger durch die Museen organisiert (www.zentrum.evangelische-seniorenarbeit.de).
Abschlussbemerkung
Ich glaube, man kann in den drei genannten Beispielen die Bezüge der jeweiligen Kulturbergriffe gut erkennen. Die Projekte zeigen welche Kraft ein Generationendialog erzeugen kann und welche Potenziale in der guten Kooperation von Freiwilligen und Institutionen des Kulturbereichs schlummern.
Umso unverständlicher ist es, dass der Kulturbereich in der derzeitigen Engagementpolitik eine so untergeordnete Rolle spielt. Der Diskurs ist sehr stark von sozialen Themen geprägt. Diese Einseitigkeit hat meines Erachtens gravierende Nachteile. Das, was durch die Kultur im Engagement besonders zum Tragen kommt – der Eigensinn, die Entfaltung eigener Fähigkeiten, das spielerische Element – wird im engagementpolitischen Diskurs immer mehr von den sogenannten harten Themen verdrängt: Demografischer Wandel, sorgende Netze, Bewältigung von Pflege und Demenz. Das alles ist eine wichtige Facette des Engagements, zweifellos. Aber mit ihrer Dominanz kommt auch ein Unterton der Instrumentalisierung des Engagements ins Spiel. Ehrenamt steht in Gefahr, Ausfallbürge zu werden. Kultur und ästhetische Erfahrung, die Zweckmäßigkeit ohne Zweck, um mit Immanuel Kant zu sprechen, muss in der Diskussion um das Bürgerschaftliche Engagement, aber auch um die Ausgestaltung der neuen Alterskultur ein kräftiges Wort mitreden. Sie ist ein unverzichtbares Korrektiv in der Debatte.
Um schließlich nochmals Schiller zu bemühen: „Mitten im furchtbaren Reich der Kräfte und mitten im heiligen Reich der Gesetze baut der ästhetische Bildungstrieb unvermerkt an einem Dritten, fröhlichen Reiche des Spiels und des Scheins, worin er dem Menschen die Fesseln aller Verhältnisse abnimmt und ihn von allen, was Zwang heißt, sowohl im Physischen wie Moralischen entbindet.“ (Friedrich Schiller 1975:127)