Brauchen wir eine „Kritische Kulturpädagogik“? Eine Skizze

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von Max Fuchs

Erscheinungsjahr: 2017

Was heißt „Kritische Kulturpädagogik“?

Da der Begriff der Kritischen Kulturpädagogik bislang noch nicht zu den eingeführten Begriffen im pädagogischen Kontext gehört, wird man zunächst einmal klären müssen, ob er überhaupt Sinn macht, ob es analoge Begriffe schon gibt, gegen welche Begriffe er sich unter Umständen absetzt und auf welche Praxis er zielt. Er verwendet dabei in seinen Wortbestandteilen Begriffe, die durchaus eingeführt sind. Dies gilt etwa für „Kulturpädagogik“, mit der man alle Aktivitäten bezeichnen kann, die die Entwicklung kultureller Bildung zum Ziel haben (Fuchs 2008, Zacharias 2001). „Kulturelle Bildung“ wiederum darf inzwischen als eingeführter Begriff gelten, und dies in der Politik, in der öffentlichen Kommunikation, in der Wissenschaft und in einer entsprechenden Praxis (vgl. www.kubi-online.de).

Unter diesen genannten Diskurszusammenhängen sind zunächst einmal zwei Dimensionen relevant: Es geht zum einen um eine Praxis, in der pädagogische Fachkräfte mit anderen Menschen zusammenarbeiten. Und es geht zum andern um eine Reflexion dieser Praxis, es geht um Grundbegriffe, die hierbei eine Rolle spielen, es geht um theoretische und historische Zusammenhänge, es geht um empirische Forschung, speziell um die Wirksamkeit der jeweiligen Ansätze, kurz: Es geht um Wissenschaft. Diese Überlegung führt auch bei der in der Überschrift gestellten Frage weiter, da man nunmehr beide Bereiche getrennt voneinander betrachten kann.

Die meisten werden ein kulturpädagogisches Projekt dann als „kritisch“ bezeichnen, wenn darin bestimmte gesellschaftliche Missstände thematisiert werden. Es geht dabei darum, dass es Situationen gibt, in denen Menschen nicht gut behandelt werden. Solche Situationen will man darstellen, um sie anderen zu zeigen, um sie auf diesen Missstand aufmerksam zu machen. Es handelt sich also um einen Prozess der Wahrnehmung eines Sachverhaltes, es handelt sich darum, dass dieser Sachverhalt mithilfe der verwendeten kulturpädagogischen – zum Beispiel künstlerischen – Methoden dargestellt und anderen gezeigt wird. Dabei liegt diesem Prozess eine Bewertung zu Grunde, nämlich dass man den dargestellten Sachverhalt negativ bewertet, vielleicht sogar als skandalös betrachtet.

Ein aktuelles Beispiel sind kulturpädagogische Projekte mit geflüchteten Kindern und Jugendlichen, bei denen zum einen den betroffenen Heranwachsenden die Gelegenheit gegeben wird, sich mit ihrer Situation auseinanderzusetzen. Zum andern werden die damit verbundenen desolaten Zustände öffentlich gemacht und es wird auf eine verfehlte Politik hingewiesen, die wenig mit den so oft zitierten „westlichen Werten“ zu tun hat. Implizit oder explizit steckt bei einem solchen wertenden Prozess also ein Maßstab dahinter. Im konkreten Fall bedeutet das: Man hat eine Vorstellung davon, wie ein humaner oder zumindest angemessener Umgang mit anderen Menschen aussehen müsste (wie er etwa im Einklang mit den „westlichen Werten“, also z. B. den Menschenrechten steht).

In einem solchen Alltagsverständnis einer Kritischen Kulturpädagogik kann man wesentliche Bestimmungsmomente des Attributs „kritisch“ erkennen: Es geht um eine Analyse eines Sachverhaltes, unter dem Menschen leiden, es geht um die Feststellung einer Differenz zwischen dem, was ist, und dem, was sein müsste. Es geht um Prozesse der Bewertung und – damit verbunden – um Normen und Maßstäbe.

Zieht man an dieser Stelle ein Wörterbuch zurate (zum Beispiel den Artikel „Kritik“ im Historischen Wörterbuch der Philosophie, der von C. v. Bormann, G. Tonelli und H. Holzhey verfasst wurde; Ritter/Gründer 1976:1250ff.), so stellt man fest, dass all dies der griechischen Herkunft und der Geschichte des Wortes „Kritik“ entspricht: Es geht um Beurteilen, Unterscheiden und Entscheiden in ethisch-politischer und juristischer Hinsicht und ganz allgemein im Hinblick auf Wahrnehmungen und Denkakte. Ohne hier diesen differenzierten Artikel zusammenfassen zu können, sind weitere dort erwähnte Aspekte bedeutsam: die Suche nach Sicherheit und Wahrheit, also die Suche nach Wahrem und Falschem, was insbesondere den Umgang mit überlieferten Texten bei den Renaissance-Humanisten kennzeichnet. Es gibt zudem die auch sprachliche Verbindung von Kritik und Krise (Kosellek 1973) und natürlich prägt die „kritische Philosophie“ von Immanuel Kant seither den weiteren Wortgebrauch. Hierbei geht es um die Leistungsfähigkeit der menschlichen Vernunft, nämlich um eine strenge Suche nach Wahrheit und ihrer Beweisbarkeit gegen Dogmatismus und bloße Behauptung.

In diesem Sinne formulieren die Herausgeber des Buches „Was ist Kritik?“ (Jaeggi/Wesche 2009:7):

„Was ist und wozu betreiben wir Kritik? Die Frage nach den Bedingungen und der Möglichkeit von Kritik stellt sich immer dort, wo Gegebenheiten analysiert, beurteilt oder als falsch abgelehnt werden. Kritik ist so verstanden konstitutiver Bestandteil menschlicher Praxis. Immer dann, wenn es Spielräume, Deutungs- und Entscheidungsmöglichkeiten gibt, setzt sich menschliches Handeln der Kritik aus. Wo so oder anders gehandelt werden kann, kann man auch falsch oder unangemessen handeln – und entsprechend dafür kritisiert werden. Sofern sie sich auf soziale Verhältnisse richtet, stellt Kritik gesellschaftliche Werte, Praktiken und Institutionen und die mit diesen verbundenen Welt- und Selbstdeutungen ausgehend von der Annahme infrage, dass diese nicht so sein müssen, wie sie sind.“

Ein kritischer Zugang belegt die Kontingenz des jeweils untersuchten Bereiches, weist also darauf hin, dass die Gegebenheiten überhaupt nicht alternativlos sind. Allerdings geht der Kritiker davon aus, dass es Veränderungsmöglichkeiten gibt. Man kann dies durchaus als optimistisches Bild von Welt bezeichnen. Resignation oder Kapitulation vor den Gegebenheiten gehört also nicht zu den Dispositionen einer kritischen Haltung.

In der bis heute maßgeblichen „Kritischen Theorie“ der Frankfurter Schule geht es dabei zwar auch um Ideologiekritik, also um die Entschlüsselung vermeintlicher Wahrheiten. Das Spezifikum dieses „kritischen“ Ansatzes besteht dabei darin, dass es nicht bloß bei einer wissensbezogenen Analyse bleibt, sondern dass man ganz praktisch eine Gesellschaftsveränderung betreiben soll. Darauf komme ich später zurück.

Im Hinblick auf die Kulturpädagogik ist dabei die Verwendung des Kritikbegriffs auch dort relevant, wo es um Film-, Kunst-, Theater- oder Literaturkritik geht. Auch hierbei geht es um Analyse, geht es um Werturteile, geht es um Maßstäbe, wobei eine „kritische Kritik“ daran erkannt werden kann, dass die Beurteilungsmaßstäbe auch offen gelegt werden.

Während es also in der kulturpädagogischen Praxis durchaus verbreitet ist, eine kritische Haltung einzunehmen und zu zeigen, ist dies – zumindest in demselben Maße, wie in der Praxis – in der wissenschaftlichen Kulturpädagogik nicht der Fall. So gibt es zwar in der Allgemeinen Erziehungswissenschaft und Pädagogik unterschiedliche Ansätze, die sich als kritisch verstehen und dieses Wort auch als Teil ihrer Selbstbezeichnung verwenden, doch spielen diese Ansätze in der aktuellen scientific community in der Erziehungswissenschaft nur eine Nebenrolle und in der wissenschaftlichen Kulturpädagogik nahezu keine. Dies ist nicht zuletzt auch der Grund für die vorliegende Skizze.

Armin Bernhard als ein Vertreter einer „Kritischen Pädagogik“ (im Anschluss an die „Darmstädter Schule“: Heydorn, Koneffke, Gamm) erläutert sein Verständnis von Kritik wie folgt:

„Kritik heißt in diesem Falle systematische Beanstandung der gesellschaftlichen Verhältnisse, ihrer Unzulänglichkeit aus der Perspektive eines menschlichen Maßstabs. Solange die gesellschaftliche Welt nicht nach menschlichen Kriterien eingerichtet ist, bleibt die Kritik Motor von Theorie, auch Motor pädagogischen Denkens, wird doch gerade das pädagogische Handeln tagtäglich mit dem Verlust dieses menschlichen Maßstabes konfrontiert. Kritik ist Einspruch der Gesellschaft in ihrer Verfasstheit, sie ist die negative Seite der humanistischen Philosophie des Geschichtsmaterialismus, der Idee, dass die Menschen ihre Fähigkeiten in einer entsprechend menschlich organisierten Gesellschaft in zivilen Umgangsformen entwickeln können.“ (Bernhard 2011:39)

Damit wird deutlich, dass es eine Messlatte gibt, nämlich „menschliche Kriterien“, dass es wie bei dem etymologische Ursprung des Kritikbegriffs um Vergleichen und Urteilen geht und dass dies gerade für die Pädagogik als menschliche Praxis relevant ist.

Geht es um die Benennung von Normen und Werten als Maßstäben der Bewertung in einer kritischen Zugangsweise, so wird man – in der Präzisierung der Ausführungen von Bernhard und im Rückgriff auf Kant – von Aufklärung, Vernunft, von Mündigkeit und Widerständigkeit, von Emanzipation und Befreiung sprechen müssen. All dies sind keine unbekannten Begriffe in der pädagogischen Diskussion, einige dieser Begriffe sind nur in den letzten Jahren deutlich in den Hintergrund gerückt, wobei kaum anzunehmen ist, dass sich die Verhältnisse in einer Weise verbessert hätten, dass eine solche Kritik nunmehr überflüssig wäre. Es dürfte eher das Gegenteil der Fall sein, so dass es interessant wäre, die Gründe für einen Rückzug emanzipatorischen Denkens kennenzulernen.

Hierbei ist es interessant und hilfreich, die genannten Begriffe mit möglichen Gegenbegriffen zu kontrastieren, weil dann die Ausrichtung in Wissenschaft und den Praxis deutlicher wird: Befreiung/Unterdrückung; Emanzipation/Manipulation; Aufklärung/Verdeckung; Reflexivität/Affirmation; Empowerment/Schwächung; Mündigkeit/Entmündigung; Widerständigkeit/Konformität; Autonomie und Eigensinn/Fremdbestimmung. Eigentlich sollte es bei dieser Auflistung verwundern, wenn man keine kritische Haltung einnehmen würde.

In diesem Sinne könnte man zudem einwenden, dass es sogar unnötig ist, das Attribut „kritisch“ explizit zu erwähnen, da kritisch zu sein ein Wesenselement von Wissenschaft ist. In diesem Zusammenhang bedeutet das etwa, sorgfältig mit Quellen umzugehen, seine Thesen zu belegen und nachvollziehbare Argumentationszusammenhänge vorzulegen. Man kann aber auch sagen, dass in diesem Sinne „kritisch“ auch jede handwerkliche Tätigkeit ist: Sorgfalt in der Auswahl des Materials, Sorgfalt bei der Herstellung, Redlichkeit im Umgang mit dem Kunden etc..

Karl Popper hat diesen generellen Ansatz einer Sorgfaltspflicht und Redlichkeit mit seiner Fallibilismus-Theorie bekanntlich deutlich verschärft. Auch dies – als Kernelement des Kritischen Rationalismus – gilt inzwischen als allgemein akzeptierter Standard von Wissenschaftlichkeit. Allerdings bleibt dieses Verständnis insofern ein rein wissenschafts-immanentes, als das oben von Bernhard angedeutete und von der Kritischen Theorie der Frankfurter Schule ausgearbeitete Verständnis von Kritik als Gesellschaftskritik nicht nur nicht berücksichtigt, sondern vor dem Hintergrund einer geforderten Wertefreiheit (im Sinne Max Webers) auch abgelehnt wird. Dies war der Kern des Positivismusstreites in der Soziologie, der zuerst von Adorno und Popper und später von Habermas und Albert betrieben wurde (Adorno 1993).

Im Hinblick auf die Kulturpädagogik – sowohl in der Theorie als auch in der Praxis – ist ein weiterer Bereich von Bedeutung. Wie man zeigen kann, ist ein Wesenselement der Moderne der Zusammenhang von Kritik und Krise. Eine Kritik der Moderne enthielt nicht nur immer eine Kritik der jeweiligen Kultur, sondern war sogar wesentlich Kulturkritik (Bollenbeck 2007, Konersmann 2001). Auch bei einer solchen Kulturkritik geht es darum, bestehende reale Verhältnisse in Beziehung zu setzen entweder zu einer emphatischen Selbstbeschreibung dieser Verhältnisse bzw. zu begründeten Visionen und Utopien.

Klassische Topoi der Kulturkritik der Moderne waren spätestens seit Beginn der Industrialisierung – etwa bei Rousseau – Entfremdung, Entzweiung, Verdinglichung, kulturelle Verarmung, Begrenzung von Entwicklungsmöglichkeiten. Bei einer solchen Kulturkritik ist allerdings zu berücksichtigen, dass es eine Kritik von rechts und von links geben kann. So beschreibt der Historiker Fritz Stern in seinem Buch „Kulturpessimismus als politische Gefahr“ (1963), dass und wie die rechtskonservativen Kulturkritiker rund um die Jahrhundertwende 1900 wie Paul de Lagarde, Julius Langbehn oder Moeller van den Bruck mit ihrer Kritik an der Moderne zu Wegbereitern des Nationalsozialismus wurden. Kritik ist also nicht per se gut, sondern sie muss sich ebenfalls kritisch beurteilen lassen, etwa anhand der Maßstäbe, die sie zugrunde legt.

Wozu Kritik? Anlässe und Auslöser

Sieht man vom Kritischen Rationalismus ab, bei dem es eher um wissenschaftsmethodische Fragen geht, dann dürfte es bei den meisten, die sich als kritisch verstehen, um gesellschaftliche Fehlentwicklungen handeln, auf die sie reagieren. Zu solchen Fehlentwicklungen kann man auch solche Strömungen in den Wissenschaften zählen, die sich weigern, Fehlentwicklungen zu registrieren und in ihre Arbeit einzubeziehen.

So ging es etwa bei dem Positivismusstreit in der deutschen Soziologie zwischen Adorno und Popper (Adorno u. a. 1093) zwar auch um wissenschaftsmethodische Fragen, etwa um die (auch wieder aktuelle) Frage nach der Relevanz bzw. alleiniger Legitimität quantitativer empirischer Studien, primär ging es jedoch um die bewertende Stellungnahme zu der Gesellschaft, mit der sich die Soziologie befasst. War es für den einen reine Ideologie, einen an Marx geschulten kritischen Blick auf gesellschaftliche Verhältnisse zu werfen und hierbei die nahezu totale Dominanz einer Kommodifizierung und einer Orientierung an kapitalistischen Verwertungsinteressen zu betonen, so war es für den anderen nicht nur ein wissenschaftliches Versäumnis oder politische Naivität, sondern sogar ein Verstoß gegen einen wissenschaftlichen und menschlichen Ethos, genau dies nicht zu tun.

Gerade eine Wissenschaft wie die Erziehungswissenschaft und eine Praxis wie eine pädagogische Praxis, die es beide mit einem gelingenden oder misslingenden Aufwachsen von Menschen zu tun haben, müssen Gelingens- bzw. Misslingensbedingungen bei der Realisierung des Projektes des guten Lebens in den Blick geraten. Pädagogik und Erziehungswissenschaft sind normative Disziplinen, die nicht (nur) wertfrei Entwicklungsprozesse beobachten, beschreiben und bei der Gestaltung unterstützen, sondern sie messen diese Beobachtungen an einer bestimmten Vorstellung einer entwickelten Persönlichkeit.

Solche normativen Vorgaben muss man nicht erfinden, sondern sie sind sogar gesetzlich fundiert. So ist unser Grundgesetz keine wertneutrale Organisationsregel für das Zusammenleben von Menschen, sondern es ist normativ in höchstem Maße gehaltvoll. Zudem bezieht sich das Grundgesetz auf den Katalog der Menschenrechte, denen wiederum eine Vorstellung gelingenden Lebens zugrunde liegt. Der gesamte Katalog von Schutzrechten, die den Einzelnen vor Gewalt oder auch nur vor Eingriffen in die Privatsphäre durch den Staat oder andere gesellschaftliche Kräfte schützen wird hierbei ergänzt durch einen weiteren Katalog von Anspruchsrechten, bei denen es um eine umfassende soziale, politische, kulturelle und ökonomische Teilhabe geht.

Dahinter steckt der Gedanke der Nichtverfügbarkeit menschlicher Subjektivität, so wie er etwa von Kant entwickelt worden ist. Man kann durchaus davon sprechen, dass das dahinter stehende Menschenbild die Vorstellung eines „starken Subjekts“ (Fuchs 2016, Taube 2017) ist. Ein solches Menschenbild lässt sich auf rationale Weise begründen und es kann als Messlatte dafür dienen, jeweils aktuell vorliegende gesellschaftliche Verhältnisse und Entwicklungsbedingungen zu bewerten. Einige Aspekte kritikwürdiger Umstände sollen hier benannt werden. So liefern die inzwischen regelmäßig vorgelegten Armuts- und Reichtumsberichte der Bundesregierung hinreichende Informationen darüber, dass eine immer größer werdende Zahl von Kindern und Jugendlichen unter Armut leidet. Ökonomische Armut ist dabei oft verbunden mit kultureller Armut, wobei immer wieder daran zu erinnern ist, dass menschliches Leben, so wie es im ersten Abschnitt angesprochen worden ist, mehr ist als rein biologisches Überleben. Die Erfüllung kultureller Bedürfnisse gehört zum Menschsein ebenso dazu wie ein Mindestmaß an ökonomischen Ressourcen. Ähnliche Befunde liefern sowohl die PISA-Studien im Hinblick auf die Möglichkeit zur Teilhabe sowie die regelmäßig vorgelegten Kinder- und Jugendberichte des Bundes.

Aufgrund dieser Datenlage kann heute niemand sagen, dass er das Problem ungleicher Chancen und massiver Ungerechtigkeiten in unserer Gesellschaft nicht kennt. Eine Pädagogik, die diese Formen von Ausschluss und Vernachlässigung nicht zur Kenntnis nimmt, verfehlt ihren Anspruch. Eine Kritische Pädagogik, auch eine Kritische Kulturpädagogik muss daher in besonderer Weise eine soziale Sensibilität für diese Verwerfungen in unserer Gesellschaft haben.

Vor diesem Hintergrund ist es durchaus eine wichtige Errungenschaft, dass die genannten Formen einer quantitativen Zustandsbeschreibung, die überzeugend die Mängel in unserer Gesellschaft aufzeigen, inzwischen sogar gesetzlich vorgeschrieben sind. Allerdings genügt eine solche Zustandsbeschreibung nicht, um zu erkennen, dass es möglicherweise tiefer liegende Strukturen und historische Entwicklungsprozesse sind, die zu solchen Verwerfungsprozessen geführt haben. Hier liegt daher auch die Grenze einer bloß quantitativen empirischen Erfassung, weswegen es notwendig ist, sowohl eine historische als auch eine theoretische Forschung einzubeziehen.

Damit ist man allerdings bei einem zweiten Problem angelangt, nämlich einer deutlich zu beobachtenden Einengung wissenschaftlicher Forschungsmethoden durch die Politik. Denn im Zuge einer „Evidenzbasiertheit von Politik“ werden zunehmend theoretische und historische Forschungen zurückgedrängt zugunsten einer quantitativen empirischen Forschung. Damit wird das notwendige kritische Potenzial von Wissenschaft, der Gesellschaft einen Spiegel vorzuhalten, ganz so, wie es auf andere Weise auch die Künste tun, deutlich zurückgedrängt. Eine Kritische Kulturpädagogik braucht aber beides: Sie braucht zuverlässige Daten, die die gesellschaftliche Situation der Menschen beschreiben, sie braucht aber auch theoretisch und historisch gestützte Reflexionen, um diese Daten bewerten zu können.

Einige Ansätze Kritischer Erziehungswissenschaft und Pädagogik

Einen großen Einfluss in der Geschichte der Erziehungswissenschaft hatte die Kritische Theorie der Frankfurter Schule. Als ein zentrales Gründungsdokument dieses Ansatzes ging der Aufsatz von Max Horkheimer „Traditionelle und kritische Theorie“, der zuerst in der Hauszeitschrift dieser Forschergruppe, der Zeitschrift für Sozialforschung, im Jahre 1937 veröffentlicht wurde (Horkheimer 1974:12ff.). Horkheimer arbeitet sich dabei kritisch an der erkenntnistheoretischen Tradition der europäischen Neuzeit seit Descartes ab, wobei im Mittelpunkt eine Kritik an der Überdehnung des Anwendungsbereichs der mathematisch-naturwissenschaftlichen Methode steht.

Er unterscheidet zwei Erkenntnisweisen:

„Theorie im traditionellen, von Descartes begründeten Sinn, wie sie im Betrieb der Fachwissenschaften ist, organisiert die Erfahrung aufgrund von Fragestellungen, die sich mit der Reproduktion des Lebens innerhalb der gegenwärtigen Gesellschaft ergeben. Die soziale Genese der Probleme, die realen Situationen, in denen die Wissenschaft gebraucht, die Zwecke zu denen sie angewandt wird, gelten ihr selbst als äußerlich.“ (ebd.:57)

Im Gegensatz zu dieser, von ihm positivistisch genannten Methode und Theorienbildung unterscheidet er eine kritische Theorie der Gesellschaft:

„Die kritische Theorie der Gesellschaft hat dagegen die Menschen als die Produzenten ihrer gesamten historischen Lebensformen zum Gegenstand. Die Verhältnisse der Wirklichkeit, von denen die Wissenschaft ausgeht, erscheint ihr nicht als Gegebenheiten, die bloß festzustellen und nach den Gesetzen der Wahrscheinlichkeit vorauszuberechnen wären. Was jeweils gegeben ist, hängt nicht allein von der Natur ab, sondern auch davon, was der Mensch über sie vermag. Die Gegenstände und die Art der Wahrnehmung, die Fragestellung und der Sinn der Beantwortung zeugen von menschlicher Aktivität und dem Grad ihrer Macht.“ (ebd.)

Neu ist das Ringen um die richtige und angemessene Methode nicht. In der Tat gab es seit der Antike gleich zwei Methoden, die man versucht hat, aus der Mathematik auf andere Wissensgebiete zu übertragen: die axiomatischen-deduktive Methode, so wie sie etwa Euklid in seinen Elementen (im Grundlagenwerk der Geometrie) praktiziert hat, und der algebraische Kalkül, also ein operativer Umgang mit Zeichen. Beide Ansätze haben sich in der Mathematik als überaus erfolgreiche Verfahren gezeigt, sodass es verständlich ist, dass man sich von einer Anwendung solcher Methoden eine Vergrößerung der Rationalität bei der Wahrheitssuche auch in anderen Wissensgebieten versprochen hat.

Mit der neuen Naturwissenschaft kam als weitere Methode eine experimentell-empirische Methode dazu, wobei die großen Naturwissenschaftler zu Beginn der Neuzeit souverän mit diesen Methoden spielten. Immerhin war bereits zu dieser Zeit der Unterschied zwischen dem Finden neuen Wissens, seiner Begründung und der letztlichen Darstellung bekannt. So praktizierte Newton zwar eine experimentelle Methode, stellte aber in seinem Hauptwerk, den „Mathematischen Prinzipien der Naturphilosophie“, seine Erkenntnisse in einer axiomatischen-deduktiven Form vor (vgl. Fuchs 2017). Speziell für die Pädagogik und die Geisteswissenschaften insgesamt war die Unterscheidung von Wilhelm Dilthey gegen Ende des 19. Jahrhunderts wichtig, der gegen die Überdehnung der mathematisch-naturwissenschaftlichen Methode („Positivismus“) für die Geisteswissenschaften die hermeneutische Methode als einzig angemessene proklamierte.

In dieser Traditionslinie des Ringens um die richtige Methode steht der Text von Max Horkheimer, der zudem starke Sympathien für die Hegel-Marxsche Dialektik hegt. Dabei muss man berücksichtigen, dass es seit Beginn des 19. Jahrhunderts neben den Natur- und den Geisteswissenschaften auch eine Sozialwissenschaft gibt und sich insgesamt das System der Wissenschaften im Verlaufe des 19. Jahrhunderts erheblich ausdifferenziert.

Auch in den Naturwissenschaften entwickelt sich ein Streit darüber, ob man diese als rein immanent verlaufende Erkenntnisprozesse verstehen müsse oder ob auch soziale Faktoren eine Rolle spielen, die in diesen Erkenntnisprozessen einbezogen werden müssen. Dies gilt umso mehr für die Geistes- und Sozialwissenschaften. Zudem spielten die individuellen Überzeugungen und Werthaltungen der Forscher eine Rolle, so wie sie etwa in einem Streit um die Wertfreiheit von Wissenschaft und Forschung um die Jahrhundertwende 1900 im Mittelpunkt stand (Max Weber).

In der Erziehungswissenschaft nach dem Zweiten Weltkrieg dominierten zunächst die Vertreter der Geisteswissenschaftlichen Pädagogik in der Tradition von Wilhelm Dilthey. Aus verschiedenen Gründen ist dieser Ansatz der folgenden Generation von Erziehungswissenschaftlern zum Problem geworden. Zum einen gab es einiges an Geschichte (wegen den nationalsozialistischen Verstrickungen der Geistesgrößen der 1920er Jahre) aufzuarbeiten, zum anderen wollte man eine größere Sachlichkeit in der erziehungswissenschaftlichen Argumentation. Dies erklärt die große Resonanz des nach Göttingen berufenen Heinrich Roth, der eine „realistische Wende in der Erziehungswissenschaft“ proklamierte, die unter anderem darin bestand, die nüchternen empirischen Zugangsweisen aus der amerikanischen Sozialwissenschaft nach Deutschland zu importieren.

Bei einer ideologiekritischen Aufarbeitung der Geschichte des eigenen geisteswissenschaftlichen Ansatzes wiederum spielten Adorno und Horkheimer eine entscheidende Rolle. Auf beide beziehen sich daher zum einen die Schüler der Pädagogen, die bereits in der Weimarer Zeit eine große Rolle spielten. Aber auch Erziehungswissenschaftler mit einem anderen geistigen Hintergrund bezogen sich auf die Schriften der Frankfurter Philosophen. So gab es zum einen die Ansätze von Klafki, Blankertz, Mollenhauer und anderen, die ihre ursprünglichen geisteswissenschaftlichen Konzeptionen um die kritisch-dialektische Sichtweise der marxistisch inspirierten Frankfurter Schule erweiterten, wobei hierbei der Einfluss von Jürgen Habermas immer größer wurde. Zum anderen gab es etwa Heydorn und seine Nachfolger, die später sogenannte „Darmstädter Schule“.

In seiner kritischen Analyse dieser Entwicklungstrends schreibt der Bildungshistoriker Heinz-Elmar Tenorth (in Sünker/Krüger 1999:135 ff., hier: 138):

„Kritische Erziehungswissenschaft, das ist meine Ausgangsthese, ist keine Erfindung der Studentenbewegung oder gar die theoretische Begleitreflexion antiautoritärer Erziehung. Hier wurde von kritischer Wissenschaft Gebrauch gemacht, hier wurde sie pädagogisch und politisch auch schon deformiert, hier wurde sie aber nicht erfunden. Kritische Erziehungswissenschaft ist vielmehr ein genuines Produkt der Erziehungswissenschaft selbst, eine Form der Verarbeitung von Erfahrungen, die Pädagogik als Wissenschaft nach 1950 mit sich selbst und mit der Realität von Erziehung gemacht hat.“

Als Geburtsstunde einer später so genannten „Kritischen Erziehungswissenschaft“ identifiziert Tenorth das Jahr 1964, nämlich das Erscheinungsjahr des Aufsatzes „Pädagogik und Rationalität“ von Klaus Mollenhauer. Er beschreibt die Notwendigkeit einer Wende in der Erziehungswissenschaft aufgrund ihrer Realitätsvergessenheit und spricht im späteren Verlauf von einer Konvergenz kritischer Bildungstheorie und empirischer Sozialisationsforschung. Er erläutert aber auch die unterschiedlichen Entwicklungspfade dieses Ansatzes. So scheint ihm plausibel, dass sich der späte Klaus Mollenhauer von dem frühen, an Emanzipation orientierten Mollenhauer distanziert (Stichwort: Vergessene Zusammenhänge), wohingegen Wolfgang Klafki den negativen und bloß kritischen Analyseansatz der Frankfurter Schule zu einer konstruktiv-kritischen Pädagogik weiter entwickelt (siehe hierzu das aufschlussreiche Generationengespräch mit Mollenhauer, Bollnow, Klafki, Gruschka, Wilhelm und Andreas Flitner und anderen in Kaufmann 1991).

In diesem Zusammenhang ist es nicht unwichtig darauf hinzuweisen, dass die Entwicklung einer kritischen Pädagogik keineswegs eine bloß deutsche Erscheinung ist. So gibt es starke, sozialdemokratisch zu nennende Reformbewegungen in den Vereinigten Staaten etwa im Anschluss an John Dewey, um nur ein Beispiel zu nennen. So findet sich in dem Sammelband Sünker/Krüger 1999 auch ein Beitrag des amerikanischen Erziehungswissenschaftlers Peter McLaren.

Einen guten Überblick nicht nur über Entwicklungstendenzen in den Vereinigten Staaten, sondern ebenso in Japan, China, Brasilien und anderen Ländern gibt das „Handbook of Critical Education" (Apple u. a. 2009) rund um den international umtriebigen Erziehungswissenschaftler Michael W. Apple. Interessant sind die Bezugsautoren der unterschiedlichen Beiträge, bei denen neben Adorno und Horkheimer prominente Vertreter der Cultural Studies sowie Antonio Gramsci, Nancy Fraser und Axel Honneth eine wichtige Rolle spielen. Es geht um eine harte Kritik an der kapitalistischen Gesellschaft, die – bei allen Unterschieden im Einzelnen – die Gemeinsamkeit dieser Ansätze ausmachen. Es geht um Demokratie, Gerechtigkeit, Chancengleichheit, wobei die „Pädagogik der Befreiung“ von Paolo Freire eine wichtige Modellfunktion hat.

In diese Denkweise fügen sich auch die jüngeren Vertreter der Darmstädter Schule (Pongratz, Euler, Bernhard) ein. So versuchte etwa Armin Bernhard (2011) die in der Praxis letztlich hilflose Negativität einer bloß kritischen Analyse der Frankfurter Schule durch den praktisch wirksamen Ansatz des italienischen Theoretikers Antonio Gramsci zu ergänzen. Zentraler Kritikpunkt ist die wachsende Dominanz einer neoliberalen ökonomischen Denkweise, die inzwischen auch das Bildungswesen von der Früherziehung bis zur Hochschule ergriffen hat. Es geht um die Ersetzung des Bildungsbegriffs durch einen positivistisch verstandenen Kompetenzbegriff, es geht um das Ersetzen eines facettenreichen Konzepts von Persönlichkeit und ihrer Bildung durch den Begriff des Humankapitals. Es geht um den Verlust kritisch-emanzipatorischer Traditionen, so wie sie in der Aufklärung und schließlich bei Kant mit seinem Konzept der Vernunft und der Mündigkeit ausformuliert wurden.

Neben solchen Ansätzen, die ihre pädagogischen Überlegungen nicht bloß in eine entsprechende historische Traditionslinie, sondern auch in eine umfassende Analyse gesellschaftlicher Entwicklungen einbetten, gibt es Vertreter, die ebenfalls skeptisch oder sogar kritisch gegenüber einzelnen solcher Entwicklungen sind, die etwa ein gewisses Unbehagen gegenüber Tendenzen haben, die mit der Globalisierung verbunden sind, ohne jedoch dies mit einer kritischen Gesellschaftsanalyse zu verbinden. Man findet hier unterschiedliche Anlässe für eine Reserviertheit gegenüber dem gesellschaftlichen und politischen Alltag, etwa eine Gefährdung der Kindheit durch Medien, einen Verlust nationaler Identität, die Zurückdrängung traditioneller Künste und ihrer Rolle im Bildungsdiskurs, einen tatsächlichen oder vermeintlichen Werteverlust, gelegentlich verbunden mit einem Bedauern über die geringer werdende Relevanz der christlichen Religion etc.. Ich werde später versuchen, eine Typologie der unterschiedlichen Ansätze zu entwickeln.

Elemente und Bezugsdisziplinen einer Kritischen Kulturpädagogik

Pädagogik hat es mit der Unterstützung der Entwicklung menschlicher Fähigkeiten zu tun. Das bedeutet, dass alle wissenschaftlichen Disziplinen, die sich mit dem Menschen und seiner Entwicklungsfähigkeit befassen, eine Relevanz für die Pädagogik haben. Dies betrifft auf einer grundsätzlichen Ebene die philosophische Anthropologie sowie anthropologisch relevante Aussagen von Einzelwissenschaften. Unter diesen spielen etwa die empirischen Forschungen der in letzten Jahren aktuell gewordenen evolutionären Anthropologie (siehe etwa die Schriften von Michael Tomasello) eine zentrale Rolle, weil sie bestimmte konzeptionelle Grundideen der philosophischen Anthropologie insbesondere der Anthropologie etwa von Helmuth Plessner (1976) oder der kombinierten Kulturphilosophie und Anthropologie von Ernst Cassirer (1990), die zu ihrer Zeit noch einen gewissen spekulativen Anteil hatten, nunmehr zu einer stärkeren empirisch abgesicherten Fundierung verhelfen. Trotzdem verbleiben gerade bei Fragen des Menschenbildes und des anzustrebenden Zieles der Persönlichkeitsentwicklung normative Anteile, die zwar sorgfältig begründet werden können, bei denen es letztlich aber doch auf weltanschauliche Grundüberzeugungen ankommt.

Im vorliegenden Text gehe ich von der Idee eines „starken Subjektes“ aus, bei dem zwar auch normative Entscheidungen eine Rolle spielen, bei dem man sich allerdings auch auf einem durchaus nicht unsicheren Fundament theoretischer, historischer und empirischer Erwägungen befindet (vgl. Taube 2017). In pädagogischer Hinsicht bedeutet dies, dass man sich auf die Ausarbeitung einer entsprechenden Erziehungs- und Bildungstheorie konzentrieren muss. Dazu gehört auch eine Analyse der jeweiligen Erziehungs-, Sozialisations- und Bildungsinstitutionen.

Unterstützt werden solche Ansichten durch wissenschaftliche Erkenntnisse darüber, was die Persönlichkeit des Menschen ausmacht, welche Differenzierungen man vornehmen muss und wie die Gelingensbedingungen aussehen, damit bestimmte Entwicklungsprozesse auch stattfinden können.

Es gehört heute zum wissenschaftlichen Standard im Umgang mit der Entwicklung des Subjekts, sich ein solches Subjekt nicht als isoliertes Einzelwesen vorzustellen, so wie es noch bei der Idee der Monade in der Philosophie von Leibniz auftaucht. Es dürften heute alle Experten davon ausgehen, dass auch die Entwicklung von Individualität nur in einem sozialen Kontext möglich ist. Eine große Akzeptanz in dieser Hinsicht erfährt hierbei die Sozialphilosophie, so wie sie wesentlich etwa von George Herbert Mead in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts in Chicago entwickelt worden ist (und bei der es überraschende Parallelen zu ähnlichen Überlegungen von Theodor Litt in den 1920er Jahren gibt). Dies bedeutet aber auch, dass die sozialen Kontexte des Aufwachsens eine wichtige Rolle spielen. Diese sozialen Kontexte werden bestimmt von der spezifischen Gesellschaftsstruktur, von der sozialen Lage des betroffenen Subjekts und seiner Bildungseinrichtungen, von politischen Rahmenbedingungen, die entweder Ressourcen bereitstellen oder vorenthalten. Dies bedeutet für jede Pädagogik und somit auch für die Kulturpädagogik – insbesondere dann, wenn man einen kritischen Ansatz verfolgt – dass die politische und soziale Analyse zusammen mit den dazugehörigen Wissenschaften mit einbezogen werden müssen.

Kulturpädagogik wiederum hat es mit einer größeren Anzahl unterschiedlicher kulturpädagogischer Methoden zu tun, deren Spektrum bewusst offengehaltenen ist. Sowohl theoretisch als auch historisch kann man als Kern dieses Methodenspektrums das Feld künstlerischer Methoden betrachten. Möglicherweise klingt das einfacher, als es in der Realität ist. Denn bei der Betrachtung der Entwicklung der Künste muss man sehen, dass spätestens seit dem 19. Jahrhundert Künstlerinnen und Künstler in ihrer Praxis nicht nur neue Werke schaffen, sondern mit diesen Werken auch ein neues Verständnis von Kunst durchsetzen wollten (Fuchs 2011).

Das Kunstverständnis ändert sich also gravierend im Laufe der Jahrzehnte und Jahrhunderte, so dass eine jegliche Selbstgewissheit darüber, was unter „Kunst“ oder unter künstlerischen Methoden verstanden werden kann, völlig fehl am Platze ist. Dies bedeutet aber auch, dass immer wieder in der Kulturpädagogik vorfindliche Versuche, „künstlerische Qualität“ definieren zu wollen, vor dem Hintergrund dieser dynamischen Entwicklungsgeschichte scheitern müssen, wenn sie allzu apodiktisch vorgetragen werden. Solche Versuche haben stets eine enge Verwandtschaft mit den eigentlich überwundenen Ansätzen essentialistischer Kunsttheorien, also mit den vergeblichen Versuchen, das „Wesen von Kunst“ eindeutig zu definieren.

Zudem macht man sich leicht bei einer zu selbstgewissen Konzentration auf die in Europa wichtig gewordenen künstlerischen Ausdrucksformen eines Kulturimperialismus schuldig. So haben etwa Kolleginnen und Kollegen aus Afrika, Asien oder Südamerika bei internationalen UNESCO-Konferenzen zur kulturellen Bildung darauf hingewiesen, dass die traditionellen europäischen Kunstformen keineswegs in allen Teilen der Welt dieselbe Relevanz haben, wie dies in Europa und Nordamerika der Fall ist. Damit wird aber auch deutlich, dass eine kritische Kunsttheorie eine wesentliche Bezugsdisziplin einer kritischen Kulturpädagogik sein muss.

Ähnliches ist zu dem Begriff der Kultur zu sagen. Es kann hier nur auf die Vielfalt unterschiedlicher Kulturbegriffe hingewiesen werden, wobei ein gravierendes Problem darin besteht, dass man in den unterschiedlichen Wissenschaftsdisziplinen, in der politischen, alltäglichen und öffentlichen Kommunikation sehr unterschiedliche Kulturbegriffe verwendet. So gelten solche Kulturbegriffe in den Wissenschaften als verpönt, die in der politischen und pädagogischen Praxis eine zentrale Rolle spielen. Dies bedeutet, dass eine Kritische Kulturpädagogik als Basisdisziplin auch eine kritische Kulturtheorie benötigt.

Ein weiterer Aspekt, der zu berücksichtigen ist – gerade in einer politischen Perspektive –, ist darin zu sehen, dass die Konjunktur des Kulturbegriffs, sein Aufkommen und seine Geschichte im 19. Jahrhundert, sehr viel mit den sozialen Auseinandersetzungen dieser Zeit zu tun haben. So lässt sich pauschal sagen, dass der Kulturdiskurs nicht nur ein Krisendiskurs der Moderne ist, sondern man kann auch zeigen, dass man mithilfe eines Kulturdiskurses soziale Fragen in den Hintergrund drängen wollte. Dies spielt für die aktuelle Kulturpädagogik dort eine Rolle, wo man sich fragen muss, welches die gesellschaftlichen Gründe für die derzeitige Konjunktur kultureller Bildung sind. Einer naiven Freude darüber, dass ein länger vernachlässigter pädagogischer Bereich und eine wichtige Dimension persönlicher Bildung nunmehr besser zu ihrem Recht kommen, als das bislang der Fall war, wird man zumindest mit dem Wermutstropfen begegnen müssen, dass in der Geschichte, speziell in der Geschichte der Weimarer Republik, eine entsprechende Kulturpädagogik nicht bloß bereits einmal existiert hat, sondern auch eindeutige politische Ziele verfolgte (zur Geschichte siehe Zirfas 2015). Also auch hier ist es gerade im Sinne einer Aufklärungstradition notwendig, ideologiekritisch und selbstreflexiv das eigene Feld zu betrachten.

Im Folgenden sollen zu den genannten Feldern (Anthropologie, Persönlichkeitstheorie, Bildungstheorie, Kunsttheorie, Kulturtheorie, Gesellschaftstheorie, politische Theorie etc.) nur einige äußerst knappe Anmerkungen gemacht werden.

Bei dem Konzept eines starken Subjektes geht es darum, dass der/die Einzelne als Moment der Entwicklung der Moderne nunmehr selbst in der Verantwortung steht, sein/ihr eigenes Projekt des guten Lebens zu realisieren. Dass er/sie dies nicht alleine bewerkstelligen kann, dass er/sie also eine Fülle sozialer Beziehungen und auch materielle und ideelle Ressourcen benötigt, wurde bereits oben angesprochen. Die Rede von einem starken Subjekt bedeutet daher nicht, dass er/sie – so wie es im romantischen Denken vorzufinden war – in unrealistischen Allmachtsfantasien schwelgen kann, also seine/ihre Möglichkeiten der Steuerung und vielleicht sogar Beherrschung der Lebensumstände völlig überdehnt. Man hat vielmehr zur Kenntnis zu nehmen, dass einer solchen produktiven Lebensgestaltung vielfach Hindernisse entgegenstehen. Es gibt eine große Zahl von Zumutungen, deren Bewältigung man vom Einzelnen erwartet. Von daher ist ein wesentliches Prinzip der Lebensgestaltung das Prinzip der Widerständigkeit. Dazu gehört auch die Fähigkeit, die Umstände und Ursachen zu analysieren, die sich der eigenen Lebensgestaltung entgegenstellen. Auch dies bedeutet „Kritische Kulturpädagogik“, weil diese den/die Einzelne/n auch in dieser Hinsicht stark machen soll. Eine „Kritische Kulturpädagogik“ kann sich in theoretischer Hinsicht hierbei auf eine Fülle bildungstheoretischer Überlegungen stützen.

Einige Ausführungen im Umgang mit dem Kunst- und Kulturbegriff habe ich bereits oben gemacht. Diese sollen an dieser Stelle nicht weiter vertieft werden. Von besonderer Bedeutung – auch als spezifische Motivation für die Entwicklung einer Konzeption einer Kritischen Kulturpädagogik – ist die Analyse der derzeitigen Gesellschaft. Es wurde oben bereits davon gesprochen, dass auch jenseits einer harten Kapitalismuskritik viele Menschen ein gewisses Unbehagen an der derzeitigen ökonomischen Entwicklung empfinden. Die Folgen der aktuell praktizierten ökonomischen Theorie und der darauf aufbauenden wirtschaftspolitischen Steuerung der Gesellschaft sind an den Armuts- und Reichtumsberichten der Bundesregierung abzulesen: Die Kluft zwischen Arm und Reich wird immer breiter, zugleich wächst die Unzufriedenheit mit dem politischen System. Denn zurecht gehen die Menschen davon aus, dass das politische System in erster Linie die Aufgabe hat, für eine wohlgeordnete Gesellschaft zu sorgen. In dem Maße, in dem dies misslingt, verliert das jeweilige System an Rückhalt und an Legitimation. Statistiken zeigen, dass genau dies zurzeit mit der demokratischen Ordnung in den Ländern geschieht, in denen es zu gravierenden Pathologien des Sozialen gekommen ist.

Es geht also nicht um Ökonomie schlechthin, denn dass der Mensch wirtschaftlich handeln muss, um notwendige Ressourcen seines Lebens sicherzustellen, darf man als anthropologische Grundtatsache annehmen und wird ernsthaft von niemandem bestritten. Deshalb findet sich auch die Wirtschaft als eine der symbolischen Formen bei Ernst Cassirer, wobei auch der konservativ-liberale Philosoph zustimmend die Kapitalismuskritik des später von rechten Kräften ermordeten Politikers und ehemaligen Chefs der AEG, Walter Rathenau, zur Kenntnis nimmt. Es geht also keineswegs um Ökonomie schlechthin, es geht noch nicht einmal primär um eine grundsätzlich kapitalistisch organisierte Marktgesellschaft. Zu letzterem Punkt ist daran zu erinnern, dass es bereits einmal eine Schule von Ökonomen gegeben hat, die sich selbst „neoliberal“ nannte, und die – im Gegensatz zu dem heutigen Neoliberalismus – einen unkontrollierten Kapitalismus deshalb kritisierte, weil dieser in der Tendenz die Marktwirtschaft und das Prinzip des freien Wettbewerbs aufhob (Alexander Rüstow, Wilhelm Röpke). Deshalb forderte diese Gruppe von Ökonomen starke staatliche Interventionen, etwa im Bereich des Kartellrechts.

All diese Überlegungen übersieht eine aktuelle Studie des Rates für kulturelle Bildung (2017), die sich mit dem Verhältnis von Ökonomie und kultureller Bildung befasst. Im Vorwort moniert man, dass man sich in der künstlerischen und kulturpädagogischen Praxis in einer gewissen Distanz zur Ökonomie sieht und spricht von einem „Ökonomie-Bashing“, von dem man sich offenbar absetzen will. In der Folge spricht man allerdings durchaus auch von einer „erbärmlichen materiellen Armut“, bezieht diese allerdings nur auf die begrenzten Teilhabechancen an der Kultur bei bestimmten Bevölkerungsgruppen. Es wird dann zwar angekündigt, dass sich ein eigenes Kapitel mit der „Vielfalt der relevanten Ökonomie-Verständnisse“ befasst, wobei bei der Erläuterung der Notwendigkeit von Ökonomie bloß auf die oben erwähnte anthropologische Grundtatsache ökonomischen Handelns hingewiesen wird. Auf aktuelle Ökonomie-Diskurse, die bei dem erwähnten Bashing eine zentrale Rolle spielen, geht die Studie trotz der Ankündigung erst gar nicht ein. Damit übersieht diese Studie (bewusst?) entschieden das Problem: Es geht eben nicht um eine abstrakte Ökonomie im Verständnis von Aristoteles als anthropologischer Grundtatsache, sondern es geht um die aktuell vorfindliche Umgangsweise mit ökonomischen Fragen, so wie sie inzwischen auch von Fachökonomen kritisiert wird (das hier relevante Buch von Piketty wurde sogar erwähnt, ohne Konsequenzen daraus zu ziehen). Damit verfehlt die Studie auf grundsätzliche Weise ihren eigenen Anspruch, etwas Klärendes zum Verhältnis von Ökonomie und kultureller Bildung sagen zu wollen. Sie muss vielmehr als ein Beitrag zu einem affirmativen Verständnis von Ökonomie gesehen werden, gegen das nicht nur eine Kritische Kulturpädagogik angehen muss, sondern das inzwischen weltweit zu massenhaften Protesten geführt hat.

Vor diesem Hintergrund scheint eine Lektüre der Studien des Freiburger Soziologen Günter Dux (2013) interessant zu sein, der – gerade nicht unter Bezug auf Karl Marx – umfassend und detailliert seine These begründet, dass der derzeitige Kapitalismus mit einer demokratischen Grundordnung nicht vereinbar ist. Demokratie als politische Grundordnung habe die Aufgabe, „die gesellschaftlichen Bedingungen einer selbstbestimmten Lebensführung“ zu schaffen (74). Und genau dies wird durch die Art der derzeitigen Wirtschaftsordnung verhindert. Wohlgemerkt: Es geht nicht um die Abschaffung der Marktwirtschaft oder sogar eine Einführung einer neuen Planwirtschaft, sondern es geht um die Art und Weise, wie sich der Kapitalismus heute organisiert. Denn es gibt nicht bloß eine einzige Form einer marktwirtschaftlichen und kapitalistischen Wirtschaftsordnung, sondern man spricht inzwischen von "varieties of capitalsm" (Peter Hall/David Soskice 2001).

Forschungsthemen und Fragestellungen

Eine kritische Kulturpädagogik will mehr sein als die Artikulation von Unbehagen an bestimmten Entwicklungstendenzen der neoliberal organisierten Gesellschaft. Ein solches Unbehagen kann allerdings durchaus der Ausgangspunkt für weitergehende Überlegungen sein. Diese müssen aber im ursprünglichen Wortsinne „radikal“ sein, also an die Wurzel der festgestellten Deformationen gehen. Wie an der Publikation des Rates für kulturelle Bildung gezeigt, genügt es dabei keineswegs, auf anthropologisches Grundwissen wie der Notwendigkeit ökonomischen Handelns oder auf entsprechende Theorien von Aristoteles hinzuweisen. Das kann jeder selbst am eigenen Leibe spüren, dass man mit Ressourcen sparsam umgehen muss. Ein solches Vorgehen verharmlost und verschleiert vielmehr das Problem, so dass man es mit guten Gründen „ideologisch“ nennen kann.

Es geht vielmehr um das, was man heute „Neoliberalismus“ nennt, nämlich um den Versuch einer umfassenden Umgestaltung der Gesellschaft. Ernst Cassirer wies bereits darauf hin, dass es kein Staat unterlässt, Einfluss auf eine solche Formung der Subjekte zu nehmen, die die jeweilige politische Ordnung als legitim erachtet. Daher gibt es traditionell einen engen Zusammenhang zwischen Pädagogik und Politik: Beides sind zwei Seiten derselben Medaille (Fuchs 2017a). Die Politik ist dafür zuständig, eine bestimmte gesellschaftliche Ordnung herzustellen und es kümmert sich die Pädagogik um eine entsprechende Formung der Subjekte. Dies gilt in Diktaturen oder in autoritären Gesellschaften, es gilt aber auch für demokratisch gestaltete Gesellschaften. Helmut Fend (2006) hatte dies seinerzeit unter dem Begriff der „gesellschaftlichen Funktionen“ am Beispiel der Schule gezeigt: Es geht dabei um die Funktionen der Qualifikation (als Befriedigung des Bedarfs der Wirtschaft), der Legitimation (als Befriedigung des Bedarfs der Politik), als Selektion und Allokation (als Aspekt der Versorgung der unterschiedlichen Funktionsstellen in der Gesellschaft mit geeigneten Menschen) und schließlich um Enkulturation (als Prozess der Hineinentwicklung in die jeweils vorhandene Kultur).

In politischer Hinsicht ist dieser Ansatz neutral, weil er für jede gesellschaftliche Ordnung gilt. Es geht daher heute in Deutschland darum, Bildungsprozesse und entsprechende Bildungseinrichtungen so zu gestalten, dass sie mit den Ideen und Visionen einer humanistischen demokratischen Grundordnung übereinstimmen. Es gibt gute Gründe für die Annahme, dass eine neoliberale Durchformung der Gesellschaft diesen Prinzipien einer demokratischen Grundordnung nicht entspricht, so wie es sehr deutlich Günter Dux (2013) belegt.

„Neoliberalismus“ wird von einigen als bloß politischer Kampfbegriff abgelehnt. Daher sollen einige Hinweise darauf gegeben werden, was darunter zu verstehen ist. Im Grundsatz geht es um eine Flexibilisierung der Arbeitsgesellschaft, es geht um eine Vermarktlichung des Sozialstaates und eine Ökonomisierung der alltäglichen Lebensführung. Dies bedeutet im Einzelnen für die Wirtschafts- und Sozialordnung einen Abbau sozialer Sicherungssysteme und die Durchsetzung der Forderung, dass jeder nunmehr als Ich-AG die Verantwortung für sein eigenes Leben - und auch für das Scheitern gesellschaftlicher Unterstützungsmaßnahmen - übernehmen solle.

In der Kulturpolitik bedeutet das einen Rückbau öffentlicher Verantwortung für die Erhaltung und Kultureinrichtungen ganz im Sinne des GATS-Abkommens; es geht um die Durchsetzung eines neuen Steuerungssystems (Governance Ansatz, New Public Management, Neues Steuerungsmodell), das sich sehr stark an betriebswirtschaftlichem Denken orientiert.

In der Bildungspolitik geht es – wie oben erwähnt – um den Ersatz des Bildungsbegriffes durch Konzepte von Qualifikation oder „Humankapital“. Es geht um den „flexiblen Menschen“ (Sennett 1998). In Wissenschaft und Schule geht es um die Ökonomisierung und Taylorisierung von Lernprozessen, um die Dominanz von Drittmittelforschung.

Auch der Kunstbereich bleibt nicht unberührt davon. Kunst war natürlich schon immer (auch) eine Ware, weil Künstlerinnen und Künstler stets versuchten, ihren Lebensunterhalt mit ihrer künstlerischen Tätigkeit zu bestreiten (Fuchs 2011). Allerdings gibt es in den letzten Jahren und Jahrzehnten eine Tendenz, Kunst (nur noch) als Standortfaktor, als Wirtschaftsfaktor, als Touristenattraktion zu inszenieren. Dieser Ansatz bleibt der Kunstproduktion nicht äußerlich, sondern es gibt Gründe für die Annahme, dass bis in die künstlerische Produktion hinein eine solche Kommodifizierung der künstlerischen Tätigkeit ihre Spuren im Kunstwerk oder -prozess hinterlässt. Auch diese These ist nicht neu, denn der französische Literaturwissenschaftler und Philosoph Lucien Goldman hatte schon vor Jahren davon gesprochen, dass sich Strukturen der Gesellschaft in der Struktur des Romanes widerspiegeln. Noch früher gab es die These von dem Kunsttheoretiker und Kunsthistoriker Erwin Panofsky, dass es eine strukturelle Homologie zwischen der scholastischen Philosophie und der gotischen Architektur gäbe. Diese Homologie nannte er Habitus. Pierre Bourdieu hat sein Habituskonzept auf dieser Grundlage entwickelt (er schrieb das Vorwort zur französischen Ausgabe entsprechender Schriften von Panofsky). Dieser Gedanke wurde später unter dem Begriff des „Stils“ als übergreifendem Gestaltungsprinzip weiterverfolgt.

Im Hinblick auf das Subjekt besteht daher die Spezifik einer neoliberalen Formung darin, dass diese äußere Gestaltung der Gesellschaft zu einer inneren psychischen Struktur verarbeitet wird. Dies kann man neoliberale Formung des Subjektes nennen. Daher besteht eine erste zentrale Aufgabe einer Kritischen Kulturpädagogik darin, diesen möglichen Prozess genauer zu untersuchen und zu analysieren, ob und in welcher Weise eine entsprechend geformte Subjektivität zu Deformationen der Persönlichkeit führt und in welcher Weise Ressourcen der Widerständigkeit mobilisiert werden können. Letztlich ist dies der Grundgedanke einer jeglichen emanzipatorischen Bildungsphilosophie, so wie sie bereits von Schiller oder Humboldt entwickelt worden ist.

Insbesondere geht es dabei darum, die Chancen einer entsprechenden emanzipatorischen Subjektentwicklung im Bereich der künstlerischen Praxis zu finden. Dies kann nur spartenspezifisch geschehen, weswegen eine Kritische Kulturpädagogik sich ausdifferenzieren muss in entsprechende Ansätze einer Kritischen Musik-, Theater-, Tanz-, Medien-, Museums-, Spiel-, Literatur- oder Kunstpädagogik. Auch dieser Gedanke ist überhaupt nicht neu, sondern in jedem der genannten Bereiche lassen sich entsprechende Ansätze finden, die fachspezifisch das kritische Potenzial ihres Arbeitsfeldes ausloten und Möglichkeiten zu einer vollen Entwicklung einer humanistischen Persönlichkeit analysieren.

An dieser Stelle geraten die Bildungseinrichtungen ins Blickfeld. Insbesondere muss hier die Rolle der Schule berücksichtigt werden, da diese als gesellschaftliche Zwangsveranstaltung einen großen Anteil an den Bildungsprozessen der Heranwachsenden hat. Die Schule ist insofern ein Problem, als sie gerade in Deutschland fest in der Hand des Staates ist. Gilt die oben erwähnte These, dass kein Staat die Formung des Subjektes dem Zufall überlässt, dann könnte man durchaus angesichts der durchgreifenden Neoliberalisierung unseres Staates resignieren. Allerdings ist es noch nie gelungen, aus der Schule eine „totale Institution“ (im Sinne von Ervin Goffman) zu machen. Jede Form von Wissensvermittlung – und sei sie noch so ideologisch geformt – hat es letztlich mit Wissen zu tun, das wiederum eine Neugierde auf neues Wissen erzeugen kann. Selbst die größten Kritiker des kapitalistischen Systems haben das jeweils vorfindliche reaktionäre Schulsystem durchlaufen, ohne dass dies ihre spätere kritische Haltung verhindert hätte. Zudem hat der Gedanke hohe Plausibilität, dass die Schule als Bildungsort in jeder Gesellschaft auch eine relative Autonomie hat, da sie sonst ihre Aufgabe nicht erfüllen kann.

Man muss zudem sehen, dass die hier vertretene Zielstellung gerade nicht im Widerspruch zu den humanistischen Zielen des Grundgesetzes oder der Menschenrechte (und entsprechend der Schulgesetze oder dem Kinder- und Jugendhilfegesetz) steht, sondern vielmehr kritisiert, dass genau diese Ziele durch die derzeitige Wirtschaftsordnung verfehlt werden. Es geht daher darum, klassische Werte der bürgerlichen Emanzipationsbewegung (man kann hier durchaus an Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit und sollte vor allem an den Gedanken der Mündigkeit bei Kant denken) vor einer weiteren Beschädigung zu bewahren. Es muss daher keine neue gesellschaftliche Vision entwickelt werden, es genügt schon, unser Grundgesetz in seinen Zielen und seiner Werteorientierung ernst zu nehmen (Wetz 2005).

Vor diesem Hintergrund ist es notwendig, die jeweiligen Beschreibungen und Diagnosen unserer Gesellschaft zu betrachten. Man muss dabei sehen, dass das Geschäft der Zeitdiagnose blüht. So jagen sich geradezu immer wieder neue Gesellschaftsdiagnosen: Es gab u. a. eine formierte Gesellschaft, eine Wohlstandsgesellschaft, eine Industriegesellschaft, eine Dienstleistungsgesellschaft, eine Risikogesellschaft, eine Erlebnisgesellschaft, eine Lebensstilgesellschaft, eine Multioptionsgesellschaft etc..

Aktuell erlebt der Begriff der Wissensgesellschaft eine gewisse Konjunktur. Es lohnt sich daher, kurz auf diesen Begriff einzugehen (vgl. etwa Engelhardt/Kajetzke 2010). In der Politik ist immer wieder zu hören, dass Deutschland als rohstoffarmes Land nur als Wissensgesellschaft seinen Beitrag zur Realisierung der berühmt-berüchtigten Lissabon-Ziele leisten könne, nämlich die Europäische Union zum „stärksten wissensbasierten Wirtschaftsraum“ der Welt zu machen. Man kann die Schul- und Wissenschaftspolitik im neuen Jahrtausend, also nach der Vorlage der PISA-Studien und mit der Durchsetzung des Bologna-Prozesses in Deutschland, durchaus als Beitrag zur Entwicklung einer solchen Wissensgesellschaft sehen.

Die neoliberale Ausrichtung dieses Konzeptes kann man daran erkennen, dass es nur um ein spezifisches Wissen geht, das kaum noch etwas mit dem klassischen Bildungsbegriff zu tun hat. Es geht nicht um kritische Reflexion gesellschaftlicher Gegebenheiten und individueller Entwicklungsprozesse, sondern es geht nur noch um solches Wissen, bei dem man eine ökonomische Verwertbarkeit unterstellt. Ein solches Wissen ist empirisch-quantitativ überprüfbar durch Monitoring- und Evaluationsprozesse (für die Pädagogik siehe Baumert/Tillmann 2016). Ein solches Wissen ist gefordert, wenn es um die Durchsetzung einer „evidenzbasierten Politik“ geht (Bellmann/Müller2011). Und nicht zuletzt ist es ein solches Wissen, das von Politik und einer wachsenden Zahl von Stiftungen gefördert wird. Damit verändern sich Wissenschaftskulturen, weil der Bereich der Theorie und Geschichte der jeweiligen Fachwissenschaften zurückgedrängt wird. Damit fehlt aber eine kritische Instanz der Reflexivität, für die offenbar kein Bedarf mehr besteht. Es erscheint daher die These plausibel, dass das Konzept der Wissensgesellschaft eine konsequente Fortsetzung dessen ist, was Adorno und Horkheimer seinerzeit Kulturindustrie genannt haben (Rühle 2015). Bei der Kulturindustrie These ging es nämlich keineswegs – wie vielfach kolportiert – um eine verächtliche Sicht auf die Massenkultur, es wurden vielmehr auch die Bereiche der Hochkultur zunehmend unter dem Regime der Vermarktung gesehen. Also auch hier lohnt sich die Aufnahme einer bereits älteren Diskussion, so wie sie rund um die „Dialektik der Aufklärung“ (Horkheimer/Adorno 1974) und den Positivismusstreit geführt wurde.

Versuch einer Typologie einer Kritischen Kulturpädagogik.

Es wurde oben erwähnt, dass ein Unbehagen an bestimmten Auswüchsen der derzeitigen gesellschaftlichen und ökonomischen Entwicklung durchaus verbreitet ist. Doch unterscheiden sich die Autorinnen und Autoren dabei in der Tragweite und Ausformulierung ihrer Kritik.

Zu einem Kernbereich eines kritischen Ansatzes kann man solche Autoren zählen, die auf der Basis einer marxistischen Orientierung grundsätzlich mit der kapitalistischen Grundordnung der Gesellschaft ins Gericht gehen. Unter diesen findet sich (heute) keiner mehr, der eine der untergegangenen sozialistischen Gesellschaften ernsthaft als Modell für eine alternative Gesellschaftsordnung in Betracht zieht (Demirovic 2003, Jaeggi/Loick 2013). Allerdings werden Alternativen für die derzeitige Ordnung gesucht. In der Erziehungswissenschaft könnte man Namen wie Gamm oder Huysken zu diesem Kreis zählen.

Ein deutlich weiterer Kreis orientiert sich stärker an der alten Frankfurter Schule, an Bourdieu und/oder an den Machtanalysen von Foucault oder an anderen marxistisch inspirierten Denkern wie etwa Henri Levèbvre, Althusser, Gramsci oder an der Befreiungspädagogik von Paolo Freire. Hierzu zählen viele Schülerinnen und Schüler der traditionellen Vertreter der Geisteswissenschaftlichen Pädagogik und es lassen sich die Vertreter der Darmstädter Schule (Heydorn, Koneffke, Pongratz, Euler) dazu zählen.

Ein noch weiterer Kreis besteht aus denen, die durchaus ein Unbehagen und eine kritische Haltung gegenüber einer neoliberalen Ökonomisierung einnehmen, ohne jedoch die radikale Gesellschaftskritik der vorher genannten zu übernehmen.

Und nicht zuletzt sind es eher kulturkritisch orientierte Autorinnen und Autoren, die einzelne Aspekte der gesellschaftlichen Entwicklung wie etwa die Medialisierung und eine tatsächliche oder vermutete Deformation der Persönlichkeit der Kinder und Jugendlichen durch einen zu großen Medienkonsum als Anlass für ihre Kritik nehmen.

Zu diesem erweiterten Kreis gehören auch solche, die in einer wissenschaftsimmanenten Kritik die durch eine evidenzbasierte Politik erzwungene Konzentration nur noch auf quantitativ-empirische Methoden beklagen.

Schlussbemerkungen

Der vorliegende Text hatte zum Ziel, darauf hinzuweisen, dass es zum einen zum Standard der Wissenschaften gehört, ein kritisch-reflexives Verhältnis zu sich und den gesellschaftlichen Umständen einzunehmen. Dies gilt insbesondere für die Erziehungswissenschaft, da diese unmittelbar mit Menschen zu tun hat und daher einem besonderen Berufsethos verpflichtet ist (oder sein müsste).

Dieser Hinweis auf eine wissenschaftliche Grunddisposition ist deshalb wichtig, weil es nach Ansicht des Verfassers gute Gründe gibt, ein solches kritisches Verhalten auch in der Kulturpädagogik zu mobilisieren. Dabei wurde darauf hingewiesen, dass dies überhaupt kein neuer Ansatz ist, sondern vielmehr zur Tradition von Wissenschaft und Philosophie immer schon gehört hat. Allerdings scheint es der Fall zu sein, dass – möglicherweise schon als Folge des diagnostizierten Trends – für eine neue Anstrengung in dieser Hinsicht motiviert werden muss. Denn es gibt zwar zahlreiche Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler sowie Praktikerinnen und Praktiker, denen die Auswirkungen der neoliberalen Durchformung unserer Gesellschaft ein gewisses Unbehagen bereitet, doch scheut man sich anscheinend vor dem Schritt, näher auf die Ursachen dieses Unbehagens einzugehen. Die aktuelle Denkschrift des Rates für kulturelle Bildung ist ein problematisches Beispiel für eine solche Haltung. Es wäre daher gut und im Interesse der Heranwachsenden sowie der betreffenden Wissenschaften, wenn man offensiver die hier angesprochene Problematik behandelt. Dabei scheint mir die kulturpädagogische Praxis einen geringeren Nachholbedarf zu haben als die sie begleitenden Wissenschaften.

Um abschließend auf den Titel dieses Beitrages zurückzukommen: Ja, wir brauchen eine Kritische Kulturpädagogik, die mehr leistet, als ein gewisses Unbehagen zu artikulieren. Das Gute dabei ist: Es gibt eine solche Pädagogik sowohl in der Praxis als auch – zumindest in einzelnen Sparten oder bei einzelnen Themen – in den Wissenschaften schon längst. Es kommt daher darauf an, solche Denkanstrengungen zu bündeln, auch um eine entsprechende Praxis besser verstehen und vielleicht sogar anleiten zu können. Zudem braucht eine solche Praxis auch eine entsprechende Kritische kulturelle Bildungspolitik, die für geeignete Rahmenbedingungen sorgt. Diese wiederum braucht als Grundlage eine Kritische Kulturpädagogik.

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Max Fuchs (2017): Brauchen wir eine „Kritische Kulturpädagogik“? Eine Skizze. In: KULTURELLE BILDUNG ONLINE: https://kubi-online.de/artikel/brauchen-kritische-kulturpaedagogik-skizze (letzter Zugriff am 14.09.2021).

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