Begegnungen mit dem Fremden – Improvisationstheater mit Studierenden

Artikel-Metadaten

von Michael Mienert

Erscheinungsjahr: 2023

Peer Reviewed

Abstract

Improvisationstheater ist nicht nur ein Möglichkeitsraum spielerischer Kreativität, sondern kann auch ein Forum der Reflexivität, der Erkenntnis und Verständigung über die soziale Welt sein. Im Folgenden sollen Verbindungen zwischen dem soziologischen Konzept des Habitus auf der einen und den improvisatorischen Konzepten von Status und Point of Concentration auf der anderen Seite herausgearbeitet und als Basis einer Begegnung mit dem Fremden vorgestellt werden, wie es Bernhard Waldenfels‘ Begriffspaar von Pathos als Widerfahrnis und Response als unwillkürlich-leibliche Reaktion zum Ausdruck bringt. Pathos und Response werden hier gezeigt als eine Grundstruktur von szenischer Improvisation.
Diese theoretischen Aspekte werden anschließend diskutiert im Hinblick auf die praktische Arbeit mit Studierenden im Seminar „Improvisationstheater – Theatersport“, dessen Ziel es war, den Studierenden zum einen künstlerisch-improvisatorische Kompetenzen und zum anderen Kenntnisse über die performativen Aspekte sozialer Phänomene zu vermitteln – Kompetenzen und Kenntnisse, wie sie nicht zuletzt auch in der Kulturellen Bildung von Bedeutung sind.

Einleitung

Dem Begriff der Improvisation haftet im Allgemeinen der „Ruf des Beliebigen an, des Halbfertigen, nicht ganz Gelungenen“ (Bertram/Rüsenberg 2021:9). Auch die künstlerische Improvisation gilt in analoger Weise eher als erratisch-selbstbezügliches Handeln, das aber mit Kunst in einem strengen Sinne – vor allem in den Maßstäben von Schaffung bzw. Interpretation eines künstlerischen Werks – wenig gemein hat.

Gerade aber Improvisationstheater – kurz Improtheater –, das sich auf den ersten Blick ebenfalls als regelfreies, willkürliches Spiel und ein Überbieten in vordergründig witzigen Einfällen deuten lässt, soll hier vorgestellt werden als ein durchaus regelbasiertes Spiel. Denn im Prozess des theatralen Improvisierens – wie beim Improvisieren in den Künsten generell, etwa im Jazz (vgl. Bertram/Rüsenberg 2021:15) – stehen den Spielenden Regeln als eine szenische Grundlage zur Verfügung, etwa die improvisatorische Grundregel des Zug-um-Zug von (szenisch-handelndem) Angebot und spielerischer Antwort auf dieses Angebot (vgl. Lösel 2013:104).

Darüber hinaus ist das Improtheater ein Möglichkeitsfeld der Fremderfahrung – einer Begegnung mit dem Fremden im Inneren und Äußeren – und nicht zuletzt auch eine spielerische Möglichkeit der Erkenntnis performativer Prozesse der Wirklichkeitskonstruktion in der Praxis künstlerischen und sozialen Handelns. Das Fremde ist hier zu verstehen im Sinne eines Abweichens von der Ordnung, vom Erwarteten und Erwartbaren, vom Kontrollierten und Kontrollierbaren, wie es Bernhard Waldenfels in seinem Begriffspaar von Pathos und Response in seinen vielfältigen Facetten analysiert (vgl. Waldenfels 2006). Gerade auch das Improtheater ist ein Forum, das sich in diesem Chaos als einer Leere und einer Lücke in der Ordnung verorten lässt. Es eröffnet verschiedene Möglichkeiten, dieses Chaos spielerisch zu ergründen, sich ihm auszusetzen. Dieses irritierende, herausfordernde und möglicherweise bedrohliche Nichts offenbart sich in dem von einem Publikum mit seinen ausgesprochenen, vor allem aber unausgesprochenen Erwartungshaltungen kritisch-bewertend beäugter leerer Raum ohne vorgegebenen Text und ohne dramatische Struktur. Diesen Raum gilt es mit einem leiblich-szenischen Handeln spielerisch zu füllen.

Sowohl für das Publikum als auch für die Spieler*innen selbst ist dies ein kollaborativer Prozess des Entdeckens und Erkennens von sozialen Strukturen. Die improvisierte Szene ist nicht nur – wie es etwa der Begriff Theatersport als weithin bekannte Bezeichnung einer Spielform des Improtheaters nahelegt – ein schlichtes Ringen darum, so schnell wie möglich spielerisch-pointierte Einfälle zu präsentieren. Vielmehr – worauf auch Gunter Lösel hinweist (vgl. 2013:235f.) – lässt sie sich als ein Offenes Kunstwerk im Sinne Umberto Ecos verstehen (Eco 2016), in welchem freilich auf ein zu interpretierendes gegebenes Werk ganz verzichtet wird und die Offenheit radikal wird. Damit einher geht die Möglichkeit, die Welt, wenn nicht in wissenschaftlicher Weise zu erkennen, so doch „Komplemente von ihr hervorzubringen, autonome Formen, die zu den schon existierenden hinzukommen und eigene Gesetze und persönliches Leben offenbaren“ (ebd.:46). Somit ist mit Eco die Kunstform des improvisierenden Spiels nichts weniger als eine epistemologische Metapher, da sich auch in der hier spielerisch-performativen Form „die Art, wie die Wissenschaft oder überhaupt die Kultur […] die Realität sieht, widerspiegelt“ (ebd.:46). Auf diesen epistemologischen Aspekt wird insbesondere im Zusammenhang des Habitus genauer eingegangen.

In Bezug auf das Seminar „Improtheater – Theatersport“, welches ich im Sommersemester 2022 an der Universität Bielefeld für Studierende des Masterstudienganges Kulturvermittlung angeboten habe, sollen die vorgestellten theoretischen Überlegungen genauer ausgeführt und mit Erfahrungen und Erkenntnissen aus der Praxis im Seminar verknüpft werden.

Die Beziehung von Status und Habitus im Improtheater

Improvisationstheater generell soll hier in der weit gefassten Definition verstanden werden, die Lösel vorschlägt, nämlich als eine eigenständige Theaterform, bei der die szenische Improvisation „(1) im Mittelpunkt der Aufführung steht und (2) explizit ist.“ (Lösel 2013:37; Hervorh. i. Orig.). Die spezifische Spiel- und Aufführungsform des Theatersports, wie sie Keith Johnstone entwickelt hat und die eine der wohl weltweit bekanntesten Formate des Improvisationstheaters ist, entspricht dieser Definition ganz und gar. Auf den Aspekt eines spielerischen Wettkampfes zweier Teams um Punkte für die jeweils am besten improvisierte Szene kann hier nicht näher eingegangen werden, denn wichtiger ist im Folgenden die von Johnstone vorgestellte Grundlage des Improvisierens: der Status.

Dieser Status, der für Johnstone in einem weiteren Sinne mit (szenisch-sozialer) Dominanz bzw. Unterwerfung korreliert (vgl. Johnstone 1998:57), ist die situativ verkörperte soziale Stellung, die die szenische Beziehung zwischen den Schauspieler*innen/Figuren sowie ihr aufeinander bezogenes Handeln bestimmt als „ein dynamisches Konglomerat von Verhaltensweisen. Status ist hier nicht etwas, das man hat, sondern etwas, das man tut“ (Lösel 2013:90).

Der jeweilige Status ist dabei immer und in erster Linie leiblich – nicht verbal – präsent und wird spielerisch (weiter-)entwickelt, beispielsweise in einer abgewandt-ausweichenden Körperhaltung, in ruckartig-angestrengten Bewegungen oder im unsteten Blick des Tiefstatus einerseits und einer zugewandt-selbstgewissen Haltung, den geschmeidig-eleganten Bewegungen und dem sicheren Blick des Hochstatus (vgl. Johnstone 1998:71). Scheinen diese Zuweisungen auf einen ersten Blick reine Äußerlichkeiten zu sein, so sind sie doch im Zusammenhang der improvisierten Szene vielmehr Verkörperungen der sozialen Stellung der sich improvisierend entwickelnden Figur, ihrer individuellen Sozialisation und ihres aus ihr resultierenden spezifischen Handelns.

Damit lässt sich der Status Johnstones als ein szenisches Äquivalent zu Pierre Bourdieus Konzept des Habitus verstehen. Der Habitus ist bei Bourdieu die qua primärer Sozialisation erworbene individuelle Handlungs-, Wahrnehmungs- und Denkmatrix (vgl. Bourdieu 2015a:169), er ist die individuell inkorporierte – also die im Wortsinn einverleibte – und damit „zu Natur gewordene Geschichte“ (ebd.:171), ist die in Fleisch und Blut übergegangene zweite Natur. Der in diesem Sinne gewissermaßen sozial geprägte, ja geformte Leib also „agiert die Vergangenheit aus, die damit als solche aufgehoben wird, erlebt sie wieder. Was der Leib gelernt hat, das besitzt man nicht wie ein wiederbetrachtbares Wissen, das ist man“ (Bourdieu 2015b:135; Hervorh. i. Orig.).

Indem sich der*die Spieler*in also einen charakteristischen szenisch-leiblichen Status verleiht, verknüpft er*sie die sich entwickelnde improvisierte Figur in der Szene mit einer individuellen Handlungs-, Wahrnehmungs- und Denkmatrix und verkörpert somit eine ganz spezifische Stellung im sozialen Raum, die sich im jeweilige Status zeigt und szenisch wirksam wird.

Dieser Prozess des Embodiments als einer dynamischen Beziehung zwischen spielerischem, szenisch-leiblich realisiertem Status einerseits und dem individuellen Habitus der Schauspieler*innen andererseits fungiert als Grundlage der szenischen Improvisation, weil er wegführt von einem rationalen, subjektivistischen Ansatz (die Spieler*innen improvisieren solistisch) hin zu einem leiblich-sozialen Ansatz (die Spieler*innen handeln/improvisieren status- bzw. habitusbezogen, also intersubjektiv). Mit diesem sozialen Ansatz des Status verbunden ist eine Möglichkeit der spielerischen Erkenntnis der Wirksamkeit performativer Akte, die szenische – und damit auch soziale – Realitäten schaffen. Improtheater ist dem Statuskonzept Johnstones folgend also gerade nicht bloß ein Forum überraschender und witziger Einfälle, sondern auch und vor allem eine spielerische Form der Erkenntnis und Verständigung über soziale Strukturen und ihre Dynamiken und darüber, wie sie sich leibhaftig realisieren und im Körper wirksam werden.

Es kommt also nicht von ungefähr, dass sich in den theoretischen Überlegungen zu Improvisationstheater der Bezug zum Habitus-Konzept Bourdieus findet, so etwa bei Robert Keith Sawyer (vgl. 2003:57), der in seiner Untersuchung der Prozesse kollaborativer Emergenz (nicht nur) improvisierter Dialoge die Rolle des Habitus als „micro-macro link“ (ebd.) hervorhebt. Dieser stellt bei Sawyer die Verbindung dar zwischen individueller Kommunikations- und Handlungssituation (micro) auf der einen und den gegebenen gesellschaftlichen Strukturen (macro) auf der anderen Seite. Er ist somit – mit Bourdieu formuliert – die Vermittlungsinstanz „zwischen Struktur und Praxis“ (Bourdieu 2020:125).

Anders gesagt: In der Impro-Szene im Besonderen, aber auch im ästhetischen Drama überhaupt scheinen soziale Dramen auf (vgl. Turner 2009:142), es werden somit soziale Strukturen erkennbar und diskutabel, denn Dramen setzen „reflexive Prozesse ebenso in Gang, wie sie diese einschließen, und bringen kulturelle Rahmen hervor, in denen Reflexivität einen legitimen Ort haben kann“ (ebd.:145).

Der Point of Concentration

Ein weiteres, wie der Status Johnstones aber weniger leibbezogenes Konzept der theatralen Improvisation findet sich bei Viola Spolin mit ihrem Point of Concentration bzw. „Punkt der Konzentration“ (Spolin 2010:37), den sie zum Zentrum ihrer Improvisationsmethode macht. Spolin richtet sich dabei explizit nicht nur an ausgebildete Schauspieler*innen, sondern an alle (Impro-)Theater-Interessierten: „Jeder kann schauspielen. Jeder kann improvisieren.“ (ebd.:17) – ein Ansatz, der Improtheater also nicht nur für ein im weiteren Sinne professionelles Theater öffnet, sondern auch für Kulturelle Bildung im Allgemeinen und die Arbeit mit Studierenden im Besonderen interessant macht.

Bei Spolin findet der*die Improvisationsspieler*in im Point of Concentration einen Orientierungspunkt, der außerhalb der (autoritär geprägten) Beziehung Lehrer*in–Schüler*in bzw. Dozent*in–Student*in und auch außerhalb der (auf andere Weise autoritär geprägten) Beziehung Publikum–Spieler*in und demzufolge auch außerhalb der mit beiden einhergehenden Erwartungshaltungen liegt (z.B. Abhängigkeit von Zuschauerreaktionen wie Lachen, Hoffnung auf Lob von der*dem Lehrer*in etc.).

Mit dem Point of Concentration erhält der*die Spieler*in eine Art Spiel-Instrument – für Spolin ein metaphorischer Ball (vgl. ebd.:37) –, worauf sich die Aufmerksamkeit der Improvisierenden im Spiel richtet. Dabei kann es sich um reale Gegenstände im Raum handeln, beispielsweise die Bühnenbretter, die Aufmerksamkeit kann sich aber auch auf optische Reize wie das Licht der Scheinwerfer oder auf Klänge wie das Rascheln der Kleidung richten. Insbesondere aber kann sie sich auch auf den eigenen Leib, vor allem den Atem beziehen: Wie tief oder flach ist der Atem, geht er ruhig oder hektisch etc.? Gerade dieser Fokus auf den Atem und die mit ihm verbundenen leiblichen Reaktionen machen das improvisierte Spiel frei und offen für das interaktive szenische Handeln zwischen den Spielenden und ist die Grundlage für das Entwickeln einer Szene als einer gespielten, also durchaus wahrhaftig erlebten Szene und nicht nur einer kognitiv konstruierten und verbal wiedergegebenen Geschichte. Allgemein ist der Point of Concentration für Spolin eine, wenn nicht die Möglichkeit, den*die Spieler*in „zu spontanem Handeln“ zu befreien, denn er „liefert das Vehikel für eine organische und nicht zerebrale Erfahrung“ (ebd.:37), ermöglicht also eine unmittelbar-leibliche Erfahrung und geht weit über lediglich ein rational gesteuertes So-tun-als-ob hinaus.

Beides – sowohl der Status Johnstones als auch der Point of Concentration Spolins – fungieren damit als „eine Art Katalysator […], von dem aus eine körperliche Aktion möglich wird, die wiederum zur Entfaltung einer Figur oder Handlung führt“ (Lösel 2013:192), sie sind Basis des improvisierenden Spiels – oder besser gesagt: Sie lassen sich als eine solche Basis nutzen. Insbesondere aber ermöglicht der Atem als Point of Concentration das leiblich-persönliche Affiziert-Werden und Sich-affizieren-Lassen, das reale Erfahren irrealer (da improvisiert-gespielter) Ereignisse, er kann als ein „Sprungbrett ins Unbewußte“ (Spolin 2010: 37) Grundlage sein für eine Offenheit zum Fremden hin, das sich in der Improvisation zeigt.

Begegnung mit dem Fremden im szenischen Raum

Der szenische Raum des Improtheaters ist ein objektiv leerer Raum (abgesehen etwa von Sitzgelegenheiten und dergleichen für die Spielenden – die eigentliche Spielfläche ist gänzlich leer), der erst durch das szenische Handeln der Spieler*innen definiert wird. Dieser leere Raum entspricht einer, wenn nicht der Lücke in der Ordnung: dem Chaos. Das Chaos (altgriechisch χάος: der leere, unermessliche Weltenraum) ist das befremdlich-bedrohliche Gegenstück zur Ordnung des Kosmos (altgriechisch κόσμος: Ordnung, Schmuck, Weltordnung) und also nicht nur ein bloßes Durcheinander, sondern vielmehr die Sphäre eines radikalen Mangels an Sicherheit und Vertrautheit.

Dieser Mangel begründet eine radikale Fremdheit, wie sie Waldenfels definiert, nämlich als all das, was „außerhalb jeder Ordnung bleibt und uns mit Ereignissen konfrontiert, die nicht nur eine bestimmte Interpretation, sondern die bloße ‚Interpretationsmöglichkeit‘ in Frage stellen“ (Waldenfels 1997:36f.). In diesem Spielraum der Improvisation ist letztlich alles offen, nichts bestimmbar, erst in der leiblichen Präsenz eines*einer Spieler*in – und vor allem in ihr, mehr noch als in einer verbalen Äußerung – gewinnt das Chaos in dem emergenten Prozess des Improvisierens Struktur und wird allmählich zu einer sowohl für die Spieler*innen in der Szene als auch die Zuschauer*innen außerhalb der Szene (wieder-)erkennbaren, wenngleich fragilen Ordnung.

Das Fremde wird fassbar in der genannten Doppelstruktur von Pathos und Response. Mit dem Begriff des Pathos bezeichnet Waldenfels (im Unterschied zum Pathos des Ausdrucks) „Ereignisse, die nicht als abrufbares Etwas auftreten, als warteten sie bloß auf unser Stichwort oder auf unseren Tastenbefehl, die uns vielmehr widerfahren, zustoßen, zufallen, uns überkommen, überraschen, überfallen“ (Waldenfels 2006:42). In direkter Verbindung mit diesen Ereignissen des Pathos, mit diesen Widerfahrnissen, steht die Response als die unwillkürliche, leibliche Reaktion auf das Widerfahrnis, auf die Begegnung mit dem Fremden. Die Response nun ist so ein unmittelbares „Antworten auf das, was uns anspricht“ (Waldenfels 2013:196). Sie ist ein Handeln, das „nicht bei sich selbst, sondern anderswo beginnt und deswegen stets Züge einer fremden Eingebung an sich trägt“ (ebd.:45). Diese fremde Eingebung kommt in erster Linie von dem*der Partner*in in der Szene – er*sie ist gewissermaßen die Personifikation des Fremden.

Dieses antwortende Handeln (die spielerische Aktion) geht über ein kalkuliertes Handeln und eine zerebrale Erfahrung, wie Spolin es oben nennt, weit hinaus, denn in der Ausdrucksbewegung der Response tue ich als Spieler*in mehr kund, als ich planen und steuern kann; in ihr verrate „ich mich auf jeden Fall über die eigene Ausdrucksabsicht und Ausdruckshandlung hinaus“ (Waldenfels 2013:25). So sucht auch der*die Improvisierende „danach, sich dem Unvorhergesehenen der Darstellungsaufgabe, aber auch seines Handelns selbst auszusetzen, sich überraschen zu lassen vom eigenen Tun, das damit immer auch zu etwas Fremden wird“ (Matzke 2010:172). Diese Unwägbarkeit und Selbst-Fremdheit gilt es in der improvisierten Szene zuzulassen und in der Entwicklung der Szene produktiv zu machen.

Indem die Spielenden die Spielfläche betreten, indem sie sich also der radikalen Fremdheit in der Szene aussetzen, bieten sich ihnen im Kern zwei Strategien, mit der Fremdheit umzugehen:

  1. Ausweichen vor der Fremdheit: Szenischer Ort, Zeit, Figuren und Handlungen werden rasch und eindeutig benannt. Die Improvisierenden greifen auf beim Publikum verlässlich Wirksames und einfach zu Erkennendes zurück, wie etwa vordergründige und naheliegende Pointen oder Kalauer (im Theatersport nicht von ungefähr als ein ‚Foul‘ – nämlich Joking – sanktioniert). So versteht Johnstone das Bestreben der Spielenden, originell sein zu wollen, als eine „Art des Ablenkens, bei der Irrelevantes, das für ‚originell‘ gehalten wird, ins Spiel gebracht“ (Johnstone 2016:169) und kein eigentlicher spielerischer Beitrag zur Entwicklung der Szene geleistet wird.
  2. Zulassen der Fremdheit: Die Spielenden akzeptieren die Unwägbarkeit und Ambivalenz der sich im improvisierenden Spiel in kollaborativer Emergenz entwickelnden Szene. Dabei spielt die eingangs genannte Regel des Zug-um-Zug eine zentrale Rolle: Die Emergenz ergibt sich aus den sich jeweils ergänzenden und aufeinander bezogenen offenen Angeboten der miteinander szenisch arbeitenden Spieler*innen. Sie vertrauen darauf, dass ihr Spiel in diesem Prozess auch in seiner Uneindeutigkeit dennoch stets einen spezifischen Ausdruck findet. So es ist etwa schon dann, wenn zwei Schauspieler*innen „auf einer leeren Bühne […] aneinander vorbeigehen, […] möglich zu sagen, wo sie sich befinden, auch wenn sie selbst noch nicht wissen, welchen Ort die Bühne darstellen soll“ (Johnstone 1998:103). Erst im Zulassen der Fremdheit und in dieser Konstellation von zugelassenen Widerfahrnissen und erlebter Response kann sich letztlich eine gelingende Szene entwickeln.

Daraus ergeben sich für die praktische Arbeit und Auseinandersetzung mit Impro-Theater, wie sie im oben genannten Seminar stattgefunden hat, zwei Hauptaufgaben. Zum einen gilt es, gemeinsam sowohl das gegenseitige Vertrauen der Spielenden als auch ihr Vertrauen in den gerade genannten emergenten Prozess der szenischen Uneindeutigkeit zu entwickeln und zu stärken. Dazu zählt beispielsweise auch das Vertrauen, dass der*die spielerische Partner*in im Prozess des Zug-um-Zug das eigene szenische Angebot wahrnimmt, akzeptiert und in der Entwicklung der Szene weiterträgt.

Zum anderen ist die oben genannte Offenheit der Spieler*innen insbesondere auf der individuell-leiblichen Ebene von Bedeutung, vor allem in Bezug auf den Atem als leibliche Wirkung der Response. Über den Atem realisiert sich das Widerfahrnis, das den*die Handelnde*n in der Response affiziert. Es realisiert sich erst im leiblichen Erleben und Erleiden: in einem unwillkürlichen, unmittelbaren Einatmen des Ausdrucks, das den Leib ebenso unwillkürlich reagieren lässt (etwa im beschleunigten Herzschlag, im erschreckten Einatmen, einem Seufzen oder aber einem Jubelschrei). Es gilt also, die Offenheit der Spieler*innen für dieses Einatmen des Ausdrucks zu wecken.

Improvisationstheater mit Studierenden

Das eingangs genannte Seminar „Improtheater – Theatersport“ wurde von vielen (etwa 20) interessierten Studierenden mit sehr unterschiedlichen Vorerfahrungen besucht. Einige spielten bereits auch im professionellen Rahmen Improtheater, andere standen noch nie auf einer Bühne. Trotz dieser Heterogenität war die Arbeitsatmosphäre von Anfang an vertrauensvoll, partnerschaftlich und offen. Erklärtes Ziel war, zum Ende des Semesters eine Impro-Show zu spielen, was wir auch tatsächlich realisiert haben (wenn auch – hauptsächlich aus Termingründen – nicht mit allen, sondern mit sieben Studierenden in zwei Teams sowie einem Moderator).

Im Zusammenhang mit den bisher vorgestellten Überlegungen möchte ich im Folgenden zwei Punkte als ein Resümee der Arbeit im Seminar vorstellen. Diese Punkte ergeben sich zum einen aus meinen Beobachtungen im Seminar (Wie entwickeln die Studierenden die Szenen, welche Themen und Situationen interessieren sie, wie interagieren sie, wie nutzen sie Regeln und Konzepte wie beispielsweise den Status oder den Point of Concentration?). Zum anderen speisen sie sich aus den Reflexionsgesprächen mit den Studierenden – sowohl mit denen, die jeweils die Szene gespielt haben als auch den Zuschauenden – nach den Impro-Szenen, in den beide Gruppen kritisch-analytisch ihre Erfahrungen und Beobachtungen geschildert haben.

Zum ersten hatten die Studierenden allgemein schlicht Lust, spielerisch zu improvisieren und gemeinsam Szenen zu spielen. Das Interesse an der theoretischen Auseinandersetzung mit Konzepten und Begriffen des Improtheaters, wie dem genannten Status Johnstones, blieb insgesamt deutlich dahinter zurück (gleichwohl war das Interesse an den Reflexionsgesprächen nach den Szenen groß). Auch im Hinblick darauf kann ich feststellen, dass die Zeit einer anderthalbstündigen Seminarsitzung pro Woche bei insgesamt 14 Probenterminen im Semester rückblickend deutlich zu knapp war, um die oben beschriebenen Grundlagen der Improvisation sowohl praktisch in den Übungen (vor allem auch im außerordentlich wichtigen Warm-Up) und in den Szenen als auch in der theoretischen Auseinandersetzung nicht nur punktuell, sondern ausgiebig und systematisch zu berücksichtigen.

Damit hängt zum zweiten der Aspekt körperlichen Trainings und einer Sensibilisierung für die Dynamik von Pathos und Response zusammen. Diese Sensibilisierung bedarf auch schauspielerischer Techniken, vor allem in Bezug auf Körper und Atmung. Die Zeit, um diese Techniken im Seminar gemeinsam kennenzulernen und zu trainieren, war aus besagten Gründen zu kurz. Die Versuche etwa, verschiedene Status körperlich-spielerisch zu realisieren (in Anlehnung an die oben angeführte Weise Johnstones), haben die Studierenden weniger zum Spiel angeregt, sondern warfen vielmehr Fragen auf und hätten einer intensiveren Probenarbeit bedurft.

Umso bemerkenswerter war die Beschäftigung mit dem Point of Concentration Spolins. In einer Probe stellte ich den Improvisierenden die Aufgabe, in der Szene so wenig wie möglich zu sprechen, sondern hauptsächlich auf ihren Atem zu achten und die spielerischen Aktionen in der Szene ebenfalls über den Atem – und möglichst wenig über sprachliche Äußerungen – zu realisieren. Im Ergebnis entstanden Szenen, die in besonderem Maße poetisch waren: Die Spieler*innen entwickelten in größter Offenheit und Körperlichkeit sowie mit intensiver Bezogenheit aufeinander (Zug-um-Zug) sehr individuelle, von Atem getragene Szenen.

Diese Intensität der Arbeit mit dem Point of Concentration ließ sich in der folgenden Arbeit nicht unmittelbar fortsetzen, markierte aber eine wichtige Etappe und einen bedeutenden Bezugspunkt in der folgenden improvisierenden Arbeit miteinander.

Fazit

Die angeführten theoretischen Hintergründe und Aspekte des Improvisationstheaters ließen sich, wie deutlich wurde, in der praktischen Arbeit im Seminar nur bedingt nutzen und untersuchen. Das lag in der Hauptsache am zeitlichen Rahmen, aber auch daran, dass die Spielfreude der Studierenden völlig zu Recht im Mittepunkt stand und auch generell nicht von einem etwaigen Übermaß an Theorie an den Rand gedrängt werden sollte.

Doch auch wenn theoretische Erkenntnisse in der szenischen Improvisation im Allgemeinen nicht unmittelbar im Zentrum stehen (können), so bietet sie doch mittelbar verschiedene Möglichkeiten, die auch und gerade in der Kulturellen Bildung von Bedeutung sein können:

Improtheater bietet Räume einer spielerischen Erfahrung der szenisch-performativen Dimensionen sozialer Strukturen und sozialen Handelns sowie der spielerischen Auseinandersetzung mit ihnen. So lässt sich insbesondere das hier vorgestellte Habitus-Konzept Bourdieus im Zusammenhang mit künstlerischen (also auch performativen) Prozessen so deuten: Auch und gerade im individuell Improvisierten als einem „Zentrum des Individuellen selber [ist] Kollektives zu entdecken; Kollektives in Form von Kultur – im subjektiven Sinn des Wortes cultivation oder Bildung oder […], im Sinne des Habitus, der den Künstler mit der Kollektivität und seinem Zeitalter verbindet und […] seinen anscheinend noch so einzigartigen Projekten Richtung und Ziel weist“ (Bourdieu 2020:132).

Improtheater öffnet den Blick für den*die Andere*n und für die mit ihm*ihr verbundenen Widerfahrnisse, es sensibilisiert für das Fremde in Anderen und das Fremde im Selbst. Es eröffnet Möglichkeitsräume der bewussten Erfahrung von Pathos und Response und der mit ihnen verbundenen leiblichen Prozesse.

Improtheater regt Kreativität an. Improvisationstechniken wie die von Johnstone oder auch Spolin setzen darauf, dass die spielerische Spontaneität einen „Moment persönlicher Freiheit“ mit sich bringt, der als ein „Zeitpunkt der Entdeckung, der Erfahrung und des kreativen Ausdrucks“ (Spolin 2010:18) verstanden werden kann. In diesem kreativen Entstehungsprozess eines performativen offenen Kunstwerkes im Sinne Ecos wird gewissermaßen auch künstlerische und persönliche Selbstwirksamkeit erfahren, denn nicht die Auseinandersetzung mit einem gegebenen Werk (also einem Theaterstück) und dessen Autor*in steht hier im Zentrum, sondern „der spielerische, soziale Konstruktionsprozess von Bedeutungen. Dies geschieht unter Verwendung von Produktionsansätzen, die die Emergenz von Bedeutungen unterstützen, sodass im bedrohlichen Chaos gleichzeitig die beruhigende Möglichkeit von Selbstorganisation aufgezeigt wird“ (Lösel 2013:239).

Das Chaos der leeren Bühne des Improvisationstheaters als ein Ort des radikal Fremden und die Begegnungen mit dessen verschiedenen Erscheinungsformen bietet – so hat der Artikel zu zeigen versucht – Studierenden wie auch anderen Interessierten einen reflexiven Raum der spielerisch-kreativen Verständigung über sich selbst und die soziale Welt überhaupt.

Verwendete Literatur

  • Bertram, Georg W./Rüsenberg, Michael (2021): Improvisieren! Lob der Ungewissheit. Reclams Universal-Bibliothek. Ditzingen: Reclam.
  • Bourdieu, Pierre (2020): Zur Soziologie der symbolischen Formen. Suhrkamp-Taschenbuch Wissenschaft. Frankfurt am Main: Suhrkamp.
  • Bourdieu, Pierre (2015a): Entwurf einer Theorie der Praxis: auf der ethnologischen Grundlage der kabylischen Gesellschaft. Suhrkamp-Taschenbuch Wissenschaft. Frankfurt am Main: Suhrkamp.
  • Bourdieu, Pierre (2015b): Sozialer Sinn: Kritik der theoretischen Vernunft. Suhrkamp-Taschenbuch Wissenschaft. Frankfurt am Main: Suhrkamp.
  • Eco, Umberto (2016): Das offene Kunstwerk. Suhrkamp-Taschenbuch Wissenschaft. Frankfurt am Main: Suhrkamp.
  • Johnstone, Keith (2016): Theaterspiele: Spontaneität, Improvisation und Theatersport. Berlin Köln: Alexander.
  • Johnstone, Keith (1998): Improvisation und Theater. Berlin: Alexander.
  • Lösel, Gunter (2013): Das Spiel mit dem Chaos: zur Performativität des Improvisationstheaters. Bielefeld: Transcript.
  • Matzke, Annemarie (2010): Der unmögliche Schauspieler: Theater-Improvisieren. In: Brandstetter, Gabriele/Bormann, Hans-Friedrich/Matzke, Annemarie (Hrsg.): Improvisieren. Paradoxien des Unvorhersehbaren. Kunst – Medien – Praxis (161-182). Bielefeld: Transcript.
  • Sawyer, R. Keith (2003): Improvised dialogues: emergence and creativity in conversation. Publications in creativity research. Westport, Conn: Ablex Pub.
  • Spolin, Viola (2010): Improvisationstechniken für Pädagogik, Therapie und Theater. Coaching fürs Leben. Paderborn: Junfermann.
  • Turner, Victor (2009): Vom Ritual zum Theater: der Ernst des menschlichen Spiels. Campus-Bibliothek. Frankfurt/Main: Campus.
  • Waldenfels, Bernhard (2013): Sinnesschwellen: Studien zur Phänomenologie des Fremden. Frankfurt am Main: Suhrkamp.
  • Waldenfels, Bernhard (2006): Grundmotive einer Phänomenologie des Fremden. Frankfurt am Main: Suhrkamp.
  • Waldenfels, Bernhard (1997): Topographie des Fremden – Studien zur Phänomenologie des Fremden. Suhrkamp Taschenbuch Wissenschaft. Frankfurt am Main: Suhrkamp.

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Michael Mienert (2023): Begegnungen mit dem Fremden – Improvisationstheater mit Studierenden. In: KULTURELLE BILDUNG ONLINE: https://kubi-online.de/artikel/begegnungen-dem-fremden-improvisationstheater-studierenden (letzter Zugriff am 16.07.2024).

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