Baukulturelle Bildung – Vom Begriff der Baukultur zum Bildungskonzept Baukulturelle Bildung
Abstract
Der Begriff der Baukultur ist in aller Munde und seit der Davos Erklärung im Jahr 2018 sogar im englischen Sprachgebrauch angekommen. Doch was steckt hinter diesem aufgeladenen, historisch geprägten und streitbaren Begriff? Im vorliegenden Text wird auf Basis vielseitiger Blickwinkel der Baukultur-Begriff umrissen und aus den aufgezeigten Bedeutungsebenen Schlussfolgerungen für die Bildung gezogen. Das so entwickelte Konzept zur Baukulturellen Bildung zeigt die Weite dieses Bildungsansatzes. Baukulturelle Bildung umfasst die großen Bildungsziele der Zeit, von der Partizipation, der politischen Teilhabe bis zur kulturellen Bildung und künstlerischen Auseinandersetzung, aber auch der Denkmalvermittlung, einer technisch-konstruktiven (MINT) Bildung sowie der Bildung für nachhaltige Entwicklung.
Architektur – Kultur im Alltag
Der Architektur kann sich niemand entziehen, sie ist omnipräsent. Architektur umgibt den Menschen als gebaute Kultur und konfrontiert ihn in allen Lebenssituationen mit verschiedensten räumlichen Erfahrungen und Empfindungen.
Mit den Worten „Alles ist Architektur“ überschrieb der Architekt Hans Hollein 1967 sein Postulat über die Architektur und drückt damit aus, wie sehr Architektur Teil des Lebens ist. Seit jeher umgibt, umhüllt und schützt sich der Mensch durch von ihm geschaffene Bauwerke. Architektur berührt uns sinnlich emotional, unsere Gestimmtheit, aber auch das Verhalten wird unbewusst und bewusst von Räumen, Raumanordnungen und Atmosphären gelenkt (vgl. Bollnow 1963/2010). Architektur beeinflusst Empfindungen, Bewegungen und Handlungen im Alltag, wie kaum eine andere Sparte der Kultur. Räume leiten und verleiten den Menschen zu Aktionen und Bewegungen. Die gebaute Umwelt wie der städtische Raum beeinflussen zumeist, ohne dass man sich dieser räumlichen Lenkung bewusst wird oder die Architektur und ihre Zeichen (vgl. Barthes 1967) deuten kann.
Um Architektur zu erleben, müssen Schüler*innen ihre Gebäude nicht verlassen. Schulhäuser sind prägender Faktor im Schulalltag, bestimmen sie doch wesentlich Atmosphäre, Schulklima und die pädagogische Arbeit (vgl. Rittelmeyer 2013). Lehr- und Lernverhalten sind untrennbar mit der Architektur verbunden. Die Manipulation durch Raum kulminiert in der Gestaltung von Verkaufs- und Markenpräsentationen. (Innen-)Architekt*innen inszenieren mit Marketingexpert*innen dramaturgische, räumliche Verführungen (vgl. Mikunda 2005), die Blicke und Bewegungen bis hin zum Kaufverhalten steuern. „Architektur ist Konditionierung eines psychologischen Zustandes“ (Hollein 1967:1). Und Architektur ist „kultisch, sie ist mal Symbol, Zeichen, Expression“ (ebd.) und spiegelt Zeitgeschichte, Gesellschaft und Lebensphilosophie wider.
Wenn der gebauten Raum eine so entscheidenden Relevanz im Alltag einnimmt, sollte die Menschen gebildet sein für einen kompetenten Umgang mit dieser umfassenden Präsenz des gebauten Raumes. Ein basales Verständnis und Grundwissen sowie ein kritisches Bewusstsein für das Agieren und Reagieren in der gebauten Umwelt sind folglich Ausgangspunkt und Motor einer Baukulturellen Bildung. Verwenden wir eine Metapher und übertragen diese Alltagskompetenz auf die Sprache: Wenn Architektur als Literatur verstanden würde, dann sollte jede*r die Buchstaben des Alphabets sowie ein Grundkonzept der jeweiligen Sprache kennen und der Methode des Lesens mächtig sein, um einfache Worte oder ganze Texte zu verstehen. Dabei kann es den Literat*innen oder Wissenschaftler*innen (in unserem Fall Architekt*innen, Architekturtheoretiker*innen und Kulturwissenschaftler*innen) vorbehalten bleiben, den literarischen Diskurs über die Texte, über Semantik und Sprachwissenschaft oder eben im metaphorischen Sinn über Architekturgestaltung und Architekturtheorie zu führen. Aber jede*r muss auch über eine sprachliche Grundbildung besitzen. Wir alle sollten Buchstaben (Zeichen) und Prinzipien Sprach- und Satzbildung bzw. Gestaltung und Formfindung kennen und erkennen, um lesen, deuten und sich über den gebauten Raum austauschen zu können.
Eine Lehre von der gebauten Umwelt
Der Blick in die Forschung unterstützt die Forderung nach mehr Bildung in Bereich der Architektur. 1997 untersuchten Riklef Rambow und Rainer Bromme zum ersten Mal das Interesse und den Wissensstand von Oberstufenschüler*innen zur Architektur (vgl. Rambow/Bromme 1997). Die Auswertung der Befragung zeigt einen geringen Wissenstand und stark divergierende Meinungen über die Domäne der Architektur auf. Probleme in der Wahrnehmung sowie fehlende Kriterien zur Beurteilung klingen bereits in dieser Studie an. Diese Schwierigkeiten bei der Artikulation von Architektur sind geblieben, was Riklef Rambow mit seiner Forschung zur Expert*innen-Laienkommunikation in der Architektur klar belegen konnte.
2014 konnte die Autorin, selbst aktive Baukulturvermittlerin und Vorstandsmitglied der Landesarbeitsgemeinschaft Architektur und Schule Bayern e.V., einen Architektur-Wettbewerb an bayerischen weiterführenden Schulen entwickeln und durchführen. Die Intentionen des Schüler*innen-Wettbewerbs „Architektur auf dem Bierfilzl“ war es, junge Menschen für städtebauliche Situationen zu interessieren und sie für Baukultur zu sensibilisieren. Mit einem methodisch strukturierten Architekturprojekt samt Lehrer*innen-Fortbildungen und didaktischen Begleitmaterial sollte Architektur möglichst breit in den Unterricht unterschiedlichster weiterführender Schularten implementiert werden. Rund 4.500 Schüler*innen reflektierten dabei in vier Arbeitsschritten und auf vier Bierdeckeln ihr persönliches, bauliches Lebensumfeld und gestalteten eigene architektonische Entwürfe für Brachen, (Bau-)Plätze oder Grünflächen.
Bei den zum Wettbewerb eingereichten Arbeiten, die eine städtebauliche Situation bearbeitet haben, kann in der dabei ausgefüllten Erläuterung eine breite Schwierigkeit in der Beschreibung des gewählten Standorts und der baulichen Struktur herausgelesen werden. Dies lässt zwei Schlussfolgerungen zu:
- Es fehlt zum einen an einer differenzierten und bewussten Wahrnehmung. Denn: Wer nicht ein bewusstes Sehen gelernt hat, kann nichts beschreiben. Die Schüler*innen haben es nicht gelernt, Gebautes wirklich betrachten und beschreiben zu können. Sie scheinen Architektur oft nur als undifferenzierte Hülle oder Volumen wahrzunehmen.
- Zum anderen fehlt es den Rezipient*innen am entsprechenden Vokabular, um das Gesehene und ggf. Empfundene gezielt artikulieren zu können. Die Schüler*innen fanden nur wenige alltägliche Worte, um die ästhetische Qualität von Bauwerken und Objekten auszudrücken. An der Fachsprache orientierte Beschreibungen wie „eine monumentale Kirche, barocker Stil“ (Jonas, 8 Jahre, Kempten) sind selten zu finden. Das Wahrnehmen und Beschreiben räumlicher Gegebenheiten mit einer Alltagssprache in Ergänzung mit einfachen Fachbegriffen wäre als schulische Grundbildung wünschenswert.
Eine Befragung mit standardisierten Fragebögen zu Beginn des Wettbewerbs ermöglichte Daten zu Interesse, Wissen und Betroffenheit bei den Schüler*innen zur Architektur zu erheben. Diese Begleitstudie belegt das große Interesse der Kinder und Jugendlichen an Architektur. Von 1.800 Fragebögen, die zurückgesandt wurden, wurde eine zufällige, valide Stichprobe pro Altersstufe gewählt. Ausgewertet wurden mit dieser Zufalls-Stichprobe insgesamt 484 Fragebögen. Darin gaben über ¾ der in Bayern befragten Schüler*innen im Alter zwischen 10 und 17 Jahren im Jahr 2014 an, das Thema Architektur interessant bzw. sehr interessant zu finden. Bei der Fragen nach einem Schulfach Architektur und den möglichen Inhalten gaben die Schüler*innen zahlreiche und ideenreiche Lehrinhalte an.
Betrachten wir den schulischen Kontext genauer: 70% der 10- bis 12-Jährigen in der Sekundarstufe 1 (5. bis 7. Klasse) gaben in der Befragung an, bisher keine Architektur-Themen im Unterricht behandelt zu haben. Ab der Sekundarstufe 2 von der 8. bis zur 12. Klasse, also bei den 13- bis 17-Jährigen, sind zumindest nur noch 58%, die sich nicht an baukulturelle Themen im Unterricht erinnern können. Berührungspunkte der 10- bis 17-Jährigen zur Architektur finden wir neben größeren Baustellen im eigenen Umfeld, vor allem im Analogen beim Bauen eigener Baumhäuser bzw. Lager und im Digitalen durch Internetspiele wie z.B. Minecraft.
Die Studie belegt das vorherrschende Interesse, aber auch die fehlende Auseinandersetzung im Unterricht. Dies scheint ein Grund, warum nur 16% dieser Altersstufen glauben, sich überhaupt ein Urteil über Architektur bilden zu können.
Die Zahlen verwundern, finden wir doch seit Jahrzehnten baukulturelle Themen im Fächerkanon an deutschen Schulen. Bereits 2001 formulierte Gert Kähler in seinem ersten Statusbericht zur Baukultur in Deutschland die Forderung nach einem Fach „Lehre von der gebauten Umwelt“ für das Bildungssystem. Diese Lehre von der gebauten Umwelt umfasst bei Kähler die gebaute Alltagswelt von der Bushaltestelle, über den Arbeitsplatz bis zum städtischen Raum zwischen Parkplätzen oder gestalteten Parkanlagen (vgl. Kähler 2001). 2010 veröffentlichte die Wüstenrot Stiftung das Lehrangebot Curriculare Bausteine für den Unterricht, heute ein Standardwerk zur Architektur- und Baukulturvermittlung, und zeigte damit zum ersten Mal auf, wo und mit welchen Aspekten die Architektur deutschlandweit in den Lehrplänen der Schulen zu finden ist. Denn Architektur und Baukultur ist nicht nur im Fach Kunst beheimatet. Ein vertiefter Blick in die Lehrpläne zeigt, dass Architektur sowohl in den Fachlehrplänen der einzelnen Fächer wie Kunst, Geschichte, Sozialkunde, Erdkunde, Religion sowie in den übergeordneten, für alle Schularten gültigen Bildungszielen wie Kulturelle Bildung, Interkulturelle Bildung oder Bildung für Nachhaltige Entwicklung vertreten ist: Diese übergeordneten Bildungsziele stehen beispielsweise den aktuellen, kompetenzorientierten Lehrplänen in Bayern voran.
Architektur und Baukultur
Welche Inhalte, Meinungen und Konzepte zur Architektur und dem gebauten Raum nehmen wir als Ziel und Lehrinhalt einer Baukulturellen Bildung? Um ein Konzept zur Baukulturellen Bildung zu skizzieren, ist eine Untersuchung des Begriffs der Baukulturunerlässlich. Nach einer vielseitigen Betrachtung des Baukultur-Begriffs und einer bildungstheoretischen Einordnung sollen diverse Erwartungen an eine Baukulturelle Bildung zusammengefasst werden.
Seit dem Start der Initiative Architektur und Baukultur des Bundes im Jahre 2000 und seit der Gründung der Bundesstiftung Baukultur 2007 ist der Begriff der Baukultur in der öffentlichen, politischen und fachspezifischen Debatte angekommen. Der Anfang des 20. Jahrhunderts bereits aufkommende Begriff der Baukultur wurde durch die nationalsozialistische Propaganda in den 1930er Jahren kontaminiert (vgl. Durth/Siegel 2009). Er brauchte einige Jahrzehnte, um sich wieder unbelastet im deutschen Sprachgebrauch zu etablieren. Was bedeutet die Kohärenz zwischen dem Architektur-Begriff und dem Wort Baukultur? Der zusammengesetzte Gebrauch deutet auf unterschiedliche, sich ergänzende Aspekte hin, wie sie aus der Definition des Bundesbauministerium herauslesbar sind: „Der Begriff Baukultur beschreibt die Herstellung von gebauter Umwelt und den Umgang damit“ (siehe: Bundesministerium des Innern, für Bau und Heimat). Baukultur kann also als Prozess verstanden werden, als Prozess der Planung, des Bauens und des Lebens in der gebauten Umwelt. Mit anderen Worten:
- Baukultur steht für eine Kultur des Bauens als Planungskultur,
- einer Kultur des Miteinanders beim Bauen in Form von partizipativen Prozessen und
- Bauen als Teil unserer Kultur.
Baukultur ist Partizipationskultur, so lautet auch der Titel des Netzwerktreffens der Bundesstiftung Baukultur im Jahr 2011. Eine baukulturelle Bildung ist Befähigung zur Teilhabe an Entstehungs- und Gestaltungsprozessen u.a. von Städten und Quartieren. Seit Stuttgart 21 ist das Bedürfnis in der Gesellschaft nach Mitbestimmung und Mitgestaltung gewachsen. Das nötige Bewusstsein und die Fähigkeiten zur Teilhabe sollten über Bildung entwickelt und gefördert werden.
Baukultur „schließt Planen, Bauen, Umbauen und Instandhalten ein. Baukultur beschränkt sich nicht nur auf Architektur, sondern umfasst Ingenieurbauleistungen, Stadt- und Regionalplanung, Landschaftsarchitektur, Denkmalschutz sowie die Kunst am Bau und im öffentlichen Raum gleichermaßen“ (Bundesbauministerium 2016). Die Architektur steht in dieser Aufzählung für einen Teil der gebauten Umwelt. Anders als bei Hollein, der in seinem Architekturverständnis aufzeigt, wie weit der Begriff der Architektur gedehnt werden kann, wird Architektur hier als Synonym für den Hochbau verwendet. Das Wort Architektur steht für den gebauten Raum im Allgemeinen, für das Ergebnis des Schaffens von Architekt*innen und ist Synonym für besondere Bauwerke im kunstgeschichtlichen Kontext sowie für die Fachdomäne als Tätigkeitsfeld bzw. Berufsfeld (vgl. Fischer 2014). Die Baukultur ergänzt deskriptiv diese divergierende Architektur-Auslegung und weitet diese, auf die vom Menschen geplante und gebaute Umwelt aus, von der Stadtplanung bis zur Möblierung, von der Baukunst bis zur Bausünde, von der Architekt*innenleistung bis zum selbstgeplanten Eigenheim. Als Kultur des Bauens ist Baukultur auch „die ethisch verantwortete Gestaltung gebauter Räume“ (Nida-Rümelin 2013:13). Baukultur wird im Fachdiskurs zudem mit dem impliziten normativen Anspruch auf ein qualitätsvolles, nachhaltiges, verantwortungsvolles und gutes Bauen verwendet mit der Hoffnung auf ein Bauen im Einklang mit Mensch, Natur und regionalen Traditionen.
Bei einer Umfrage gaben 23% der Befragten (n=200) an, unter Baukultur vor allem die Instandsetzung und Sanierung historischer Gebäude zu assoziieren. Im allgemeinen Sprachgebrauch wird Baukultur folglich oft mit Sanierung und der Instandsetzung von Gebäuden gleichgesetzt. Weitere Hinweise zur Bedeutungsdimensionen gibt der Baukultur Bericht 2014/15 der Bundesstiftung Baukultur.
Baukultur ist aber auch Baukunst. Die Kultur des Bauens zeigt sich in Meisterwerken der Baugeschichte, Denkmälern und historischen Bauten. Sie sind in Stein gegossene, real erlebbare europäische Kulturgeschichte. Die Wertschätzung dieser Kulturleistungen und eine grundsätzliche kunstgeschichtliche und kulturhistorische Einordnung sind im Konzept einer Baukulturellen Bildung eingebettet. Baukulturelle Bildung ist auch Denkmalvermittlung und kann in diesem Sinn zu Wertschätzung und Identifikation mit dem gebauten Erbe führen.
Bauten der Vergangenheit repräsentieren technische Errungenschaften: An Gebäuden lässt sich Zeitgeist und Lebensgefühl einer Gesellschaft ablesen. Architektur und Baukultur sind Spiegel unserer Gesellschaft (vgl. Durth/Siegel 2009). „Baukulturelle Bildung kann als einer der Schlüssel zum Verständnis von Diversität und kultureller Vielfalt verstanden werden. [...] In den Zeiten des Umbruchs in Europa kann diese Offenheit und Wertschätzung ein wichtiger Beitrag zur Identitätsbildung und Integration in unserer heterogenen Gesellschaft sein.“ (Reiterer 2019:137). Baukultur impliziert Interesse und Wertschätzung am baukulturellen Erbe einerseits, anderseits auch an aktuellen architektonischen Strömungen und Zukunftsvisionen. Gesellschaftliche und politische Debatten wie Migration und Vertreibung, Ressourcenknappheit und nachhaltige Energie bilden sich in architektonischen Strategien und Lösungsvorschlägen ab. Deutlich zeigt sich dies auf der Architekturbiennale 2016, kuratiert vom chilenischen Architekten Alejandro Aravena und seinem Aufruf „Reporting from the Front“. Die Ausstellungen präsentieren und diskutieren eine konkrete, gelebte und aneignungsoffene Architektur (vgl. Friedrich 2011), die zeitgemäße Antworten auf Fragen nach heutigen, sozialen Bedürfnissen geben sollen. Der Diskurs in Venedig bestätigt die Relevanz des gebauten Raumes für die Gesellschaft. Eine Diskussion, die nicht nur mit dem Fachpublikum, sondern immer wieder gesamtgesellschaftlich geführt werden sollte. Baukulturelle Bildung und eine damit einhergehende Verbalisierungsfähigkeit sollten aus diesem Grund zu einer baukulturellen Diskursreife führen als Voraussetzung einer Expert*innen-Laien-Kommunikation.
Der Begriff Baukultur erhielt im Januar 2018 eine weitere Aufwertung. Im Rahmen des Europäischen Kulturerbejahres formulierte die Europäische Kultusministerkonferenz die Davos Declaration, ein Positionspapier zur Baukultur. In dieser Erklärung wird erstmals länder- und sprachübergreifend der Begriff der Baukultur eingeführt und ein direkter Zusammenhang zwischen Lebensqualität, Gesellschaft und Architektur postuliert. „The Davos Declaration 2018 marks the starting point of the ongoing Davos Process which aims to continue the discourse on Baukultur. Core terms of the Declaration such as „quality”, „joint responsibility” and „cultural sustainability” are scientifically consolidated. At a political level, better policies are implemented which embrace the culture-centred concept of Baukultur and integrate the vision of a high-quality Baukultur as a core policy objective.“ (siehe: „Davos Declaration“)
Baukultur und Bildung
Bildung wird in diesem Kontext als lebenslanger, selbstgesteuerter Prozess der Wissensaneignung und als Transformation von Wissen verstanden. Dieser führt, ganz im Sinne Humboldts, auch zur Entwicklung der eigenen Persönlichkeit. Übertragen auf die Baukulturelle Bildung, ist diese im besten Fall ein lebenslanger, intrinsisch motivierter Prozess der Aneignung von baukulturellem Wissen mit der eigenen Motivation, mit der Begeisterung und dem persönlichen Interesse an Architektur und Baukultur, an Städten, Gebäuden und Innenräumen. Dieses Wissen wird dabei nicht verstanden als Fachwissen der Expert*innenkultur der Domäne Architektur. Baukulturelle Bildung reflektiert eine gelebte und nur zum Teil von Architekt*innen geplante Umweltgestaltung und untersucht ihre gesellschaftliche Relevanz im Sinne der kulturwissenschaftlichen Architektur-Betrachtung (vgl. Hauser/Kamleithner/Meyer 2011/2013). Baukulturelle Bildung ist selbstkonstruiertes baukulturelles Wissen sowie Fähigkeiten und Fertigkeiten in Form von Methoden und Strategien zur Bewusstmachung und Sensibilisierung für eine den Menschen umgebende, angeeignete Architektur und eine Auseinandersetzung mit dem gebauten Raum auf breiter Gesellschaftsebene.
Parallel zum Wissensaufbau formiert sich eine individuelle Haltung bzw. Einstellung zu architektonischen und baukulturellen Themen. Gemeint ist dabei ein persönlicher Standpunkt zur Architektur: Von diesem ethischen Orientierungspunkt aus lässt sich Wissen verorten und entwickeln sich individuelle Bewertungskriterien. Wissen, Interesse und Erfahrung greifen ineinander und ermöglichen den Aufbau einer persönlichen Haltung in Form eines anwendbaren Wertesystems (vgl. Petzelt 1963). Dieses Wertesystem liefert auf metakognitiver Ebene Kriterien für eine individuelle Urteilsbildung. Auch die Konstruktion von Wissen hängt mit Erfahrung zusammen: Wissen entsteht durch episodische, selbst erlebte Ereignisse und wird von den Individuen aufgrund dieser Erlebensprozesse konstruiert (vgl. Gruber 2001). Erfahrung führt zu verfestigtem Wissen, wenn Bildungsangebote an Erlebnissen mit persönlicher Relevanz geknüpft sind. Baukulturelle Bildung sind reale, ästhetische Erfahrungen in und mit Räumen, um sich zu verstetigen. Dies kann als Plädoyer verstanden werden, Schulen und Hochschulen zu verlassen und Architektur am Ort und vor Ort zu erleben, zu empfinden und wahrzunehmen.
Doch nicht nur eine Exkursion oder ein Stadtrundgang führen zu relevanten Erfahrungen und situierten Lernerlebnissen. Praktische ästhetische Erfahrungen mit Architektur im eigenen räumlichen Gestalten transformieren sich in Wissen und Interesse. Baukulturelle Bildung ist eine ästhetische, dreidimensionale und konstruktive Bildung. Unabhängig ob künstlerisch, performativ oder rein konstruktiv: eine praktische Auseinandersetzung mit der gebauten Umwelt fördert die Differenzierung der räumlichen Wahrnehmung und das Verständnis für Gestaltungs- und Konstruktionsprinzipien. Seit Menschengedenken gestaltet und formt der Mensch den Raum. Die kindliche Leidenschaft am spielerischen konstruktiven Bauen oder am unermüdlichen Bestücken eines Puppenhauses zeigt deutlich, dass das Kreieren und Bilden von Raum ein menschliches Grundbedürfnis sind. Eine Betrachtung auf einer rein rezeptiven Ebene wird einer umfassenden Raum-Bildung nicht gerecht. Das Gestalten, Entwerfen und Bauen von Räumen als künstlerische Aktivität transferiert Wirkungen in Rezeptions- und Reflexionsprozesse und zurück (vgl. Rittelmeyer 2010). Hier spielt gerade das Architekturmodell eine wesentliche Rolle als Ausdruckmedium räumlicher Ideen, wenn es als räumliche Skizze verstanden wird. Raum wird mit Modellen, in Skizzen, Entwurfszeichnungen und Plänen gestaltet bzw. entworfen. In überschaubaren Gestaltungssaufgaben, wie dem Entwurf eines kleinen Gebäudes, kann die Komplexität eines architektonischen Entwurfs mit seinen formalen, funktionalen und konstruktiven Kriterien nachvollzogen werden.
Mit praktischen künstlerischen Methoden wird Raum aber auch in realen Gestaltungsaufgaben und in aktivierenden Bildungsprojekten erfahrbar, eingenommen und verfremdet. Das Gestalten in Gemeinschaft schafft dabei kulturelle Teilhabe mit künstlerischen und kreativen Erfahrungen an konkreten Orten und im gesellschaftlichen Kontext. Architektur wird zur gemeinsamen Gestaltungsaufgabe. Bauen wird zum verbindenden sozialen und künstlerischen Prozess, der Mensch zum bewussten Raum-Gestalter. Die Fähigkeit, Raum sichtbar und eigenständig mitgestalten und mitprägen zu können, ist ein für die Baukulturelle und Kulturelle Bildung wesentlicher Aspekt der Selbstwirksamkeit und Teilhabe.
Abschließend sei betont, Baukulturelle Bildung ist nur eine Facette der Expertise von Architekt*innen: Sie ist weder die Anmaßung einer Befähigung zur Lösung architektonischer, realer Bauaufgaben noch eine ständische Förderung für den Architekturberuf, sondern führt zur Wertschätzung architektonischer Planungsleistung und zu Architektur-kompetenten Bauherr*innen, Entscheidungsträger*innen und Bürger*innen. Baukulturelle Bildung ist eine Bildung über den gebauten Raum sowie das praktische Bilden von Raum.