Ausschlussverfahren: Klasse als Ungleichheitskategorie in Kunstpädagogik und Kultureller Bildung
Abstract
Der Text verdeutlicht die Wirkmächtigkeit der Ungleichheitskategorie Klasse in Kunstpädagogik und Kultureller Bildung am Beispiel der Dimensionen Zugang zur Kunstausbildung sowie Inhalt und Methoden im Kunstunterricht. Ausgehend von der Beobachtung eines Projekts der Kulturellen Bildung, widmet er sich anschließend der Reproduktion von Ungleichheit durch Aufnahmeprüfungen an Kunsthochschulen. Welche Rolle spielen Konzepte wie Künstlerische Eignung und damit verbundene habituelle Normierungen? Wie führen diese zu Ausschlüssen? Wie kann Klassismus in kunstpädagogischen Methoden und Kultureller Bildung reflektiert werden? Entlang von Beispielen wird aufgezeigt, wie Praktiker*innen der Kulturellen Bildung ermächtigt werden können, klassismus- und diskriminierungskritisch zu agieren. Dieser Text ist Teil des Dossiers „Klassismus und Kulturelle Bildung“.
Klasse als Differenzkategorie. Beobachtungen aus der Praxis
Rhein-Main-Gebiet, 2022: Im Rahmen einer Tagung für Praktiker*innen aus der Kulturellen Bildung wurden verschiedene geförderte Projekte präsentiert und diskutiert. Eine engagierte Musiklehrerin berichtete begeistert von ihrem realisierten Projekt, in dem es darum ging, Schüler*innen an das Musizieren heranzuführen. Dazu wurde an ihrer Realschule eine Musikprofilklasse ins Leben gerufen, in der die Schüler*innen von der Musiklehrerin und ausgebildeten Musiker*innen eines großen deutschen Opernhauses an der Geige unterrichtet wurden. Ziel des Projektes war es, das Musikinstrument kennen und lieben zu lernen. Dafür standen mehr Personal, Geld und Zeit zur Verfügung als in der Schule üblich. Da außerschulischer Musikunterricht Kosten verursacht und so vor allem für Kinder der Armutsklasse kaum erreichbar sein dürfte — neben den Unterrichtseinheiten selbst muss auch das Instrument, ob nun neu, gebraucht oder geliehen, finanziert werden — stellt das Projekt im Sinne einer gerechteren Teilhabe eine tolle Möglichkeit dar. Entgegen meiner eigenen bisherigen Erfahrungen im Feld, wurde die Profilklasse an einer Realschule und nicht an einem Gymnasium installiert.
Dennoch überkamen mich Zweifel: Warum ist die Musikprofilklasse auf Geige und klassische Musik, und nicht etwa auf Populärmusik und deren Instrumente fokussiert? Ist das Vorgehen nicht auch als ambivalent zu bewerten, wenn Schüler*innen an das Feld der klassischen Musik herangeführt werden, das ähnlich wie das Feld der Bildenden Kunst synonym für weiße bürgerliche Überzeugungen steht? Was lernen die Schüler*innen hier neben der offensichtlichen Tatsache ein Instrument spielen zu können?
Schon Bourdieu [1979] (1987) macht darauf aufmerksam, dass nichts so „klassifikationswirksam [ist,] wie das Spielen eines ‚vornehmen‘ Musikinstruments“ (Bourdieu [1979] 1987:41f). Die Musik verkörpere „die am meisten vergeistigte aller Geisteskünste, und die Liebe zur Musik ist sicherer Bürge für ‚Vergeistigung‘“ (ebd.), die wiederum als Distinktionsmerkmal einer bildungsbürgerlichen Klasse gelten darf. Daraus lässt sich schlussfolgern, dass die Kinder hier weit mehr lernen als nur die Beherrschung eines Instruments: Geigenspiel kann auch als ein Einüben eines dominanten bürgerlichen Habitus gelesenen werden.
Wie in diesem einführenden Beispiel aufscheint, spielt die Differenzkategorie Klasse im Feld der Kulturellen Bildung eine wirkmächtige Rolle: Sie hat entschiedenen Einfluss darauf, was Kindern und Jugendlichen vermittelt wird. Wenn in der Schule im Kunst-, Musikunterricht und im Darstellenden Spiel auf zu erlernende/kennenzulernende spezifische Techniken, Instrumente, Stücke oder kunsthistorische Bilder verwiesen wird, sind diese meist Teil eines weißen bildungsbürgerlichen Kanons. Klasse spielt aber nicht nur in Bezug auf die Inhalte eine Rolle, sondern prägt auch die Strukturen des Feldes und hat Einfluss darauf, wer Zugang zu diesem Feld erhält.
Der vorliegende Text möchte aus einer diskriminierungskritischen Perspektive die Wirkmächtigkeit der Differenzkategorie Klasse für das Feld der Kunstpädagogik und der Kulturellen Bildung verdeutlichen. Kulturelle Bildung wird hier als etwas gefasst, das über das Erlernen spezifischer Kunst- und Kulturtechniken oder die Vermittlung von kanonisiertem Wissen hinausgeht: Gestaltungs- und Ausdrucksvermögen sollen im Sinne einer Selbstermächtigung gestärkt, Austausch angeregt und Identität und Gemeinschaft gestiftet werden. „Kulturelle Bildung ist ein Selbstbildungsprozess in Auseinandersetzung mit Kunst und Kultur, der häufig durch professionelle [Kulturpädagog*innen/ Kulturvermittler*innen] angeregt wird […]“ (Mandel 2014:19) und an verschiedenen außerschulischen Lernorten, aber auch in Kooperation mit Schulen stattfindet. Kunstpädagogik als Überbegriff fasst wiederum außerschulische Felder sowie konkret den Kunstunterricht an Schulen. Dem Text liegt ergänzend ein Verständnis von Kunstunterricht und Kultureller Bildung zu Grunde, das am Konzept „von Kunst aus“ (vgl. Sturm 2005) orientiert ist, welches durch eine diskriminierungskritische Perspektive erweitert wird. Ziel einer solchen Arbeit mit und durch Kunst ist es, (Selbst-)Bildungsprozesse zu initiieren, Räume zu eröffnen, Ausdrucksmöglichkeiten zu stärken und Empowermentbestrebungen zu unterstützen.
Nach der Beobachtung eines spezifischen Musik-Projekts wird im zweiten Schritt die Reproduktion von Ungleichheit durch Aufnahmeprüfungen an Kunsthochschulen analysiert und diskutiert. Die Strukturen werden in den Blick genommen und der Frage nachgegangen, welche Rolle Konzepte wie Künstlerische Eignung und damit verbundene habituelle Normierungen spielen und wie diese zu Ausschlüssen führen können. In einem dritten Beispiel geht es um eine klassismuskritische Auseinandersetzung mit den Methoden in Kunstpädagogik und Kultureller Bildung. Auch hier können Ein- und Ausschlüsse durch den Einsatz bestimmter Verfahren provoziert werden. Inwiefern eine diskriminierungskritische Perspektive zu einer Haltung beitragen kann, die Praktiker*innen im Feld ermächtigt, klassismuskritisch zu agieren, soll abschließend verdeutlicht werden.
Klasse, Klassismus, Kunstpädagogik
Es ist Marx, auf den erste, umfassende Überlegungen zum Begriff der Klasse zurück gehen. Allerdings umfasse Klasse laut Abou (2016) mehr als die Beziehung zu den Produktionsmitteln nach marxistischer Definition. Klassenherkunft und -zugehörigkeit haben Einfluss darauf, ob und wie selbstsicher Menschen Räume der Kultur (Museen, Konzerthäuser etc.) betreten, wie selbstverständlich Kinder, Jugendliche und Erwachsene an Projekten der Kulturellen Bildung partizipieren (vgl. Seeck und Bellounar 2020), ebenso welche Gründe diese davon abhalten oder aber wie naheliegend die Idee für die Aufnahme eines Studiums an einer Kunsthochschule für (junge) Erwachsene ist.
Strukturelle Ausschlüsse aufgrund einer tatsächlichen oder zugeschriebenen Klassenherkunft und -zugehörigkeit werden als Klassismus bezeichnet. Dabei spielen einerseits finanzielle Ressourcen eine Rolle, aber auch, welchen Status – und damit Macht – Menschen besitzen „und in welchen finanziellen und sozialen Verhältnissen“ (vgl. Diversity Arts Culture) diese aufgewachsen sind. Es „werden insbesondere wohnungs- und erwerbslose Menschen, Menschen aus der Arbeiter*innen- und Armutsklasse ausgegrenzt.“ (ebd.)
Klassismus als Diskriminierungsform findet in wissenschaftlichen Diskursen zunehmend Beachtung. Nahezu zeitgleich zu der viel beachteten Auseinandersetzung des französichen Soziologen Didier Eribon „Rückkehr nach Reims“ (2009), veröffentlichten Andreas Kemper und Heike Weinbach eine deutschsprachige Einführung zu Klasse und Klassismus (Kemper/Weinbach 2009). Weitere Publikationen folgten in jüngster Zeit von den Herausgeber*innen Daniela Dröscher und Paula Fürstenberg „check your habitus“ (2021), Frede Macioszek und Julian Knop „Klassenfahrt“ (2022) und Francis Seeck u.a. „Zugang verwehrt“ (2022).
Tanja Abou macht zu Recht darauf aufmerksam, dass die Kämpfe um Anerkennung im Kontext von Klasse schon in den 1980er und 1990er Jahren einsetzten. Hier waren es vor allem sogenannte Prololesben und Arbeiter*innentöchter, die in den feministischen Mainstream intervenierten (vgl. Abou 2016:24). Zuvor forderten in den USA der 70er Jahre Schwarze Feministinnen* wie The Combahee River Collective, „gegen rassistische, sexistische, heterosexistische und klassistische Unterdrückung“ zu kämpfen (The Combahee River Collective [1977] 2019:48). Diese Fäden wurden aufgenommen und fortgeführt von der Schwarzen Pädagogin bell hooks, die „Die Bedeutung von Klasse“ (hooks [2000] 2021) aus intersektionaler Perspektive beleuchtet.
Eignungsprüfungen, künstlerische Begabung und habituelle Normierungen
„Karosh schreibt: Wer begibt sich freiwillig in existenzielle Not,
wenn er damit aufgewachsen ist, wenn er davor geflüchtet ist?“ (Varatharajah 2021:14)
Die Arbeit in den Künsten und der Kulturellen Bildung ist ambivalent: Einerseits verspricht das Studium der Bildenden Kunst, die Arbeit als Dramaturg*in am Schauspielhaus oder die musikpädagogische Arbeit an einer Musikschule ein gewisses kulturelles Kapital. Andererseits ist die Arbeit im Feld von Kunst und Kultur oftmals finanziell prekär: unbefristete Stellen sind mitunter rar, Bildende Künstler*innen hangeln sich von Ausstellung zu Ausstellung, oft ohne Honorar – sie müssen somit vom Erlös des Verkaufs ihrer Werke leben und/oder weiteren Jobs nachgehen.
Im Anschluss daran bietet das obige Zitat von Schriftsteller und Aktivist Senthuran Varatharajah zweierlei Lesarten an: Einerseits lässt sich die Frage, wer sich freiwillig in existentielle Not begibt schlicht als rhetorische Frage verstehen. Dann müsste die Antwort lauten: Niemand. Niemand, die*der existenzielle Nöte selbst erlebt hat, begibt sich in ein Tätigkeitsfeld, das von prekären Arbeitsbedingungen geprägt ist. Und dennoch scheint die Arbeit in den Künsten verlockend zu sein, denn Kunst, Musik, Schauspiel stellen Möglichkeiten dar, durch die Menschen eine Stimme finden können. Eine zweite mögliche Lesart spürt praktischen Fragestellungen nach: Wer erhält Zugang zu den Studiengängen, die auf die Arbeit im Feld vorbereiten? Oder um es mit den Worten der *foundationClass und deren Präsentation auf der documenta fifteen zu sagen: „Who has the right to enter the art academy? Do you think it is really for everyone?“ (Wer hat das Recht, an einer Kunsthochschule aufgenommen zu werden? Denkst du wirklich, das hat jede*r?)
Mit Blick auf das Feld der Kunstpädagogik und Kulturellen Bildung rücken Kunsthochschulen als Ausbildungsstätten in den Fokus. Sie bieten im mehrheitlich deutschsprachigen Raum verschiedenste Studiengänge an: Bildende Kunst (Malerei, Fotografie, Video, Bildhauerei etc.) – mitunter auch Freie Kunst genannt –; Kunst für das Lehramt der verschiedenen Schulstufen; aber auch Visuelle Kommunikation, Design, Architektur, die in Abgrenzung mitunter als Angewandte Kunst bezeichnet werden – eine Einteilung, die schon vielmals in Frage gestellt und kritisiert wurde (vgl. Pazzini 2015:51f und Mörsch 2022).
Für die künstlerisch-gestalterischen Fächer an diesen Hochschulen ist eine Aufnahmeprüfung in aller Regel obligatorisch. Je nach Hochschule gibt es einstufige oder mehrstufige Aufnahmeverfahren. Meist muss eine sogenannte Mappe mit künstlerischen Arbeiten vorgelegt werden. Verbunden damit finden zum Teil zusätzlich praktische Prüfungen statt, in denen bestimmte Aufgaben in einer bestimmten Zeit umgesetzt werden müssen. Ergänzt werden diese umfangreichen Zugangsbeschränkungen durch persönliche Gespräche mit einer Prüfungskommission, d.h. Professor*innen und Mitarbeiter*innen der Hochschule, über die eingereichten und/oder vor Ort entstandenen künstlerischen Werke (vgl. z.B. Kunsthochschule Kassel).
Dass die Bewerbung an einer Kunsthochschule kostenintensiv sein kann wird deutlich, wenn man sich vergegenwärtigt was nötig ist, um eine (Bewerbungs-)Mappe anzufertigen. Materialien wie Papier, Zeichen- und Malutensilien, Kamera, ausgedruckte Bilder, Videoprogramme, Ton oder andere plastische Massen und entsprechende Werkzeuge werden benötigt – die Liste ließe sich noch erweitern. Die Ausgaben steigen weiter, wenn eine Bewerbung an mehreren Hochschulen vorgesehen ist, da dann mehrere Mappen zeitgleich eingereicht werden müssen. Darüber hinaus gibt es staatliche Hochschulen, die für die Zulassung zur Aufnahmeprüfung eine Gebühr verlangen (vgl. Kunstakademie Düsseldorf 2022:3). Die finanzielle Last erhöht sich dadurch nochmals. Für Bewerber*innen aus der Armutsschicht wird die Aufnahme eines solchen Studiums so sichtlich erschwert.
bell hooks, selbst „voller Leidenschaft“ (hooks [2000] 2021:41) für das künstlerische Tun, resümiert rückblickend auf ihre eigene Situation als junge Schwarze Frau aus einer bildungsbürgerlichfernen Klasse hierzu: Kunst, „(d)as war etwas für Leute mit Geld“ (ebd.). hooks beschreibt weiter, dass auch aus ihrer Familie keine Unterstützung für ein künstlerisches Tun kam: Kunst galt als etwas, dem man nach der eigentlichen Erwerbsarbeit nachgehen konnte. Sie berichtet, dass auf ihren Wunsch Künstlerin zu werden mit Gelächter und dem warnenden Hinweis reagiert wurde, dass „Schwarze (…) ihren Lebensunterhalt nicht mit Kunst verdienen [können]“ (hooks [2000] 2021:42). Stattdessen solle sie doch lieber als Lehrerin arbeiten (ebd.). Die künstlerische Tätigkeit wird hier entlang der Differenzkategorie race diskutiert, allerdings betont hooks, dass es bei „all den Warnungen um die unausgesprochene Realität der Klassenunterschiede in Amerika“ (ebd.) ging.
Klassenherkunft und -zugehörigkeit haben einen entscheidenden Einfluss darauf, ob das künstlerische Tun als eine legitime Form der Erwerbsarbeit vorstellbar ist, und ob ein Studium an einer Kunsthochschule überhaupt von jungen Menschen als realistische Möglichkeit imaginiert wird. Ähnliches trifft bereits für die Bewerbung an einer Kunsthochschule zu. Was braucht es neben finanziellen Ressourcen um einen Studienplatz zu erhalten? Welche Fertigkeiten werden verlangt?
Sichtet man die online zur Verfügung gestellten Informationen zu den Inhalten und Formen der Aufnahmeverfahren an den Hochschulen, so begegnet man verschiedensten Ausformulierungen. Formal muss für die Bewerbung bei den meisten Studiengängen eine Allgemeine Hochschulreife (Abitur) vorliegen. Die Bewerbung für den Studiengang Bildende Kunst kann vielerorts auch ohne Abitur erfolgen (vgl. u.a. Kunsthochschule Kassel) – mitunter ist dann aber eine hervorragende künstlerische Begabung nachzuweisen.
Bourdieu geht in seinem Hauptwerk „Die feinen Unterschiede“ (Bourdieu [1987] 1997) auf das Konzept der Begabung ein – er spricht von „Begabungsideologien“ – und macht unter Rückgriff auf den Soziologen Ortega y Gasset deutlich, wie insbesondere die moderne Kunst dazu beiträgt, das Kunstpublikum in zwei gegensätzliche Gruppen zu trennen: Die, die moderne Kunst verstehen und die, die sie nicht verstehen. Somit lägen „zwei Varietäten der Spezies Mensch [vor]“ (Bourdieu [1987] 1997:61f). Kunst sei nicht für jedermann, sondern für eine „besonders begabte Minderheit“ (ebd.). Begabung wird gewissermaßen naturalisiert, wobei die moderne Kunst gleichzeitig als Distinktionsmerkmal der privilegierten Klassen in Abgrenzung zur Armutsklasse gilt.
Die Konzepte künstlerische Eignung oder Begabung werden in Aufnahmeverfahren an Kunsthochschulen durch Auswahljurys in Stellung gebracht. Sie entscheiden, wer an einer Kunsthochschule studieren darf und wer nicht. Philippe Saner (2019) hat diese Auswahlverfahren für die Schweiz untersucht und „nach deren Bedeutung für die (Re-)Produktion von sozialen Ungleichheiten“ gefragt (Saner 2019:1). Auswahlverfahren stellen ihm zufolge den zentralen Gatekeeping-Moment dar: eine Engstelle, die alle der Gemeinschaft Kunsthochschule passieren müssen. Den Bewerber*innen wird durch die Auswahlkommission Talent oder Potenzial und damit auch ein Wert zu- oder abgesprochen. Diese Konzepte sind aber nicht neutral, „sondern ideologisch aufgeladen und in historische Macht- und Ungleichheitsverhältnisse“ (Saner 2019:3) eingebunden. Für die Aufnahmeverfahren stellt sich damit die Frage, was/wer als talentiert, begabt, geeignet gilt. Saner kommt in seiner Studie zu dem Schluss, dass die künstlerische Eignung „im Laufe des Beurteilungsprozesses kontinuierlich transformiert wird“ (Saner 2019:15). Dies wird durch die offenen Kriterien und eine entsprechende Interpretation von Kunstverständnissen und -begriffen möglich, ganz „im Gegensatz zu klar ausformulierten Kriterienrastern“ (ebd.). Potenzial – eine aktualisierte Formulierung des Begriffs Talent – ist „keine fixierbare Größe […], sondern wird situativ, von Bewerbung zu Bewerbung mit Bezug auf unterschiedliche schulweltliche Maßstäbe neu ausgehandelt“ (Saner 2019:16).
Das Einpassen in die künstlerische Gemeinschaft gilt als „zentrale[s] Rechtfertigungskriterium“ in Aufnahmeverfahren (ebd.). Implizit wird dabei auch geprüft, inwiefern Bewerber*innen in die jeweils bestehende künstlerische Gemeinschaft der Kunsthochschule passen.
In Aufnahmeverfahren erfolgt durch die vielen aufeinander folgenden und miteinander verbundenen Bewertungssituationen eine Orientierung am Bekannten, was zu einer homogenisierteren Zusammensetzung der Bewerber*innengruppe führt. Dies steht konträr zu Ansprüchen eines zeitgenössischen (westlichen) Kunstbetriebs, in dem kritische Auseinandersetzungen mit vermeintlichen Traditionen, das Finden neuer (Form-)Sprachen – ganz allgemein Innovationen – Teil des Selbstverständnisses sind (ebd.). Betroffen von solchen Heterogenitätsreduzierungen sind dann bspw. auch Bewerber*innen höheren Alters, bei denen in dieser Logik mitunter davon ausgegangen wird, dass sie nicht in die Gruppe der mehrheitlich jüngeren Studierenden eingepasst werden können. Zwar ließe sich mit Saner entgegnen, dass mögliche Passungen von Bewerber*innen und Lehrpersonen auch stets in konkreten Interaktionen in den Bewertungssituationen ausgehandelt werden, aber auch hier spielt die klassenspezifische Disposition, d.h. das Wissen, wie man in spezifischen Situationen auftritt und verhandelt, eine wichtige Rolle (vgl. Saner 2019:16).
Somit lässt sich letztlich festhalten, dass im und durch das Aufnahmeverfahren über eine Homogenisierung sozialer Körper Ungleichheit reproduziert wird (vgl. Saner 2019:15f). Das wiederum verdeutlicht, dass gerade wenn es um Fragen nach der sogenannten Passung und habituellen Normierungen geht, diskriminierungskritische Perspektiven entlang der Kategorie Klasse nicht vernachlässigt werden dürfen (vgl. Vögele/ Saner 2018).
Methodik und die Ungleichheitskategorie Klasse
Debatten zur Entwicklung von Schule und Unterricht berühren nicht erst in den letzten Jahren auch die Methodik. Während das Bild eines traditionellen, eher überholten, Unterrichts geprägt ist von Frontal- und Stofflernen – die Lehrperson schreibt die zu lernenden Inhalte vor, die wiederum durch frontale Unterweisungen erläutert werden und/oder von den Schüler*innen in Einzelarbeit erarbeitet werden – steht dem die Idee eines Unterricht entgegen, in dem sich die Schüler*innen in offenen Unterrichtsformen selbstgesteuert (und problemorientiert) Lerninhalte (gemeinsam) aneignen. Diese Öffnung kann die Sozialform, die Methoden, Techniken und/oder Inhalte betreffen. In offenen Settings übernimmt die Lehrperson eine eher unterstützende, beratende oder begleitende Rolle. Im Kunstunterricht sind solche Überlegungen zum selbstgesteuerten, methodisch eher offenen Lernen vor allem im Projektunterricht präsent (vgl. Wirth 2013:116f).
Heute ist davon auszugehen, dass in den Klassenzimmern weder ausschließlich geschlossene Formen noch offene Formen selbstgesteuerten Unterrichts stattfinden. Was bisher allerdings nahezu kaum Beachtung findet, sind diskriminierungskritische Perspektiven auf Methoden im Kunstunterricht. Mit dem Band „Untie to tie“ (Diallo/ Niemann/ Shabafrouz 2021) liegt ein wichtiger Beitrag vor, in dem dekoloniale und rassismuskritische Fragestellungen für Schule und Unterricht entfaltet, diskutiert und methodische Handlungsoptionen angeboten werden. Allerdings fehlen bisher explizit klassismuskritische Auseinandersetzungen. Denn wie am Beispiel der Aufnahmeprüfungen klassenreproduzierende Effekte bestehender Strukturen gezeigt werden konnten, so sind auch die Methoden des Kunstunterrichts/der Kunstpädagogik hegemonial und im Sinne eines diskriminierungskritischen Kunstunterricht entsprechend zu reflektieren.
Erziehungswissenschaftler Michael Sertl macht in diesem Zusammenhang darauf aufmerksam, dass offene Lernformen insbesondere Mittelschichtskinder bevorzugen (vgl. Sertl 2007). Er bezieht sich in seinen Ausführungen auf Untersuchungen des Soziolinguisten Basil Bernstein und überträgt diese in die Erziehungswissenschaft. Seine These: „[D]ie diversen Unterrichtsformen, die unter dem Namen ‚offenes Lernen‘ firmieren [, haben] ihren Ursprung in den Erziehungspraktiken der Mittelschicht“ (Sertl 2007:1). Sertl kommt zu dem Schluss, dass Unterschichtskindern [sic!] „die Vertrautheit mit diesen in der Schule erwarteten sprachlichen und kontextuellen Gegebenheiten und Arrangements [fehlen], während diese für Mittelschichtskinder ‚von zu Hause‘ geläufig [sind]“ und offene Lernformen nicht automatisch „bessere Lernchancen und Lernergebnisse“ für alle Kinder bringen (ebd.).
Durch Binnendifferenzierung – ein Terminus, der in der Unterrichtsforschung Konjunktur hat – wird versucht, die Effekte der Exklusion zu minimieren. Die verschiedenen Verfahren von Binnendifferenzierung finden Anwendung sowohl in offenen als auch stärker geschlossenen Formaten. Ziel dieser Maßnahmen ist es, allen Schüler*innen ein (Er)Lernen gleichermaßen zu ermöglichen. Im Schulalltag wird mitunter von einer Binnendifferenzierung nach unten (für Lernende, die mit dem regulären Stoff überfordert sind) und nach oben (für Lernende, die komplexere Inhalte benötigen) gesprochen – unter einer klassismuskritischen Perspektive eine problematische Formulierung.
Binnendifferenzierungen im Kunstunterricht können bspw. in Form von Beschränkungen des Bildformats, der Sozialform (gemeinsam vs. alleine lernen), des Mediums (Video oder Fotografie), der Technik stattfinden. Auch Differenzierungen in Bezug auf die Inhalte (Neigungsdifferenzierung) sind denkbar. Die Forschungslage für das Fach Kunst/die Kunstpädagogik ist bisher überschaubar (vgl. Wilsmann 2019). Zu untersuchen wäre, inwiefern ein implizites Selbstverständnis des Faches Kunst als offenes, allen Schüler*innen individuellen Zugang ermöglichendes Unterrichtsfach entworfen wird, in dem binnendifferenzierende Angebote an Schüler*innen aufgrund dieser Grundannahmen womöglich ausbleiben. Zudem gilt es ganz grundsätzlich für den Kunstunterricht zu diskutieren, ob sich beim Nachdenken über (Binnen-)Differenzierung nicht schon in der Annahme eines Normunterrichts (inklusive normativer Leistungsansprüche) und von Normschüler*innen (von denen ausgehend differenziert wird) eine Verwerfung auftut, und deshalb aus einer gänzlich anderen Perspektive über den Unterricht nachgedacht werden müsste.
Lernformen und Methoden müssen in einem diskriminierungskritischen Kunstunterricht sowie den Feldern der Kulturellen Bildung stets einer kritischen Prüfung unterzogen werden. Tools, die zu einer ersten diskriminierungskritischen Reflexion anregen, liegen beispielsweise durch eine Matrix zur Methodenplanung und -auswertung von Katharina Debus (siehe Abb. 2) oder eine Methodenwaffel von Christiane Jaspers (siehe Abb. 3) vor.
Neben der Reflexion grundsätzlicher Ziele wird auch über die Reproduktion von Herrschaftsverhältnissen und Ausschlüssen durch den Einsatz bestimmter Tools oder Methoden nachgedacht. Um nicht in einem Denken in Unmöglichkeiten stecken zu bleiben, fordert Jaspers, sich über die Potenziale zur Selbstermächtigung im Kontext eines methodischen Vorgehens Gedanken zu machen: Wie viele Kirschen lassen sich auf dem Methodeneis platzieren? (vgl. Jaspers 2022).
Ein diskriminierungskritisch-reflektiertes Handeln an der Schnittstelle Bildung/Kunst, bei dem die Möglichkeiten künstlerischer Strategien in der Vermittlungsarbeit genutzt werden, kann Potenziale zur Selbstermächtigung entfalten. Eine kritische Lesart der angewandten Methoden sollte dabei zentraler Bestandteil sein, um eine klassismuskritische Vermittlungsarbeit zu ermöglichen. Neben dem langfristig anzustrebenden Ziel, grundlegende Strukturen in Schule und Vermittlungsarbeit zu ändern, ist es für Kunstlehrer*innen in der Schule und Vermittler*innen in der Kulturellen Bildung nötig, ihre eingesetzten Methoden in Bezug auf mögliche Ausschlüsse zu reflektieren. Über die Nutzung der zuvor angeführten Materialien zur Methodenplanung und -auswertung hinaus bietet sich eine grundlegende Auseinandersetzung an – hierfür stehen diskriminierungskritische Lernmaterialien für Praktiker*innen an der Schnittstelle Bildung/Kunst zur Verfügung (vgl. Mörsch 2022); ein ganzes Kartenset fokussiert dabei die Methoden des Felds.
Ausblick / Resümee
Ich komme an dieser Stelle nochmals auf das zu Beginn angeführte Projekt im Rahmen des Musikunterrichts zurück: Dort wird Schüler*innen einerseits das Erlernen eines Musikinstruments ermöglicht, andererseits ist davon auszugehen, dass hier auch hegemoniale Vorstellungen eines bildungsbürgerlichen Lebens reproduziert werden. Auch weil aufgrund der Projektkonzeption ein Ersetzen der Geige und damit verbundener Musikstile nicht wirklich zur Disposition stehen.
Eine klassismuskritische Perspektive fragt stets, für wen welche Inhalte erstrebenswert sind, wer Setzungen vornimmt und wie diese umgesetzt werden. Sie reflektiert Inhalte, Methoden und Strukturen kritisch. Eine Chance könnte entsprechend der aktive Einbezug der Schüler*innen bei der Wahl und Gestaltung der Unterrichtsinhalte und -methoden darstellen: Die Lernenden bestimmen selbst, was und wie sie lernen wollen; die Lehrperson bereitet die Lernarrangements entsprechend vor und unterstützt die Schüler*innen in ihrem Vorhaben.
In Bezug auf die Zugangsverfahren für künstlerische, gestalterische und kunstpädagogische Studiengänge geraten, neben der kostspieligen Erstellung von Bewerbungsmappen, als zusätzliche Hürden die Gebühren für Aufnahmeprüfungen selbst in den Blick. Dazu wirken die Anforderungen der Aufnahmeprüfungen strukturell ausschließend: Wer wird weshalb zum Studium zugelassen? Inwiefern werden Bewerber*innen aus privilegierten Klassen bevorzugt aufgenommen? Nimmt man die Forschungen und Ergebnisse zu Kunsthochschulen auf Basis ungleichheitstheoretischer Perspektiven ernst und ist um ein weniger exkludierendes Lernen und Arbeiten an der Schnittstelle Bildung/Kunst bemüht, stellt sich ganz generell die Frage nach der Berechtigung von Aufnahmeverfahren an Kunsthochschulen.
Um zu einer entsprechend reflektierten Haltung zu kommen, scheint mir eine intersektionale Selbstverortung, wie sie in der diskriminierungskritischen Arbeit verfolgt wird, zielführend zu sein. Vermittler*innen in der Kulturellen Bildung und Lehrende an Schule und Hochschule sind dazu aufgerufen, entlang ihrer Klassenherkunft und -zugehörigkeit und darüber hinaus eine intersektionale Selbstverortung – auch mit spezifischem Blick auf das jeweilige Praxisfeld – vorzunehmen. Dies wäre ein erster Beitrag, um sich eine klassismuskritische Haltung anzueignen und entsprechend diskriminierungskritisch im Feld der Künste agieren zu können.