Arbeitsplätze für Künstler*innen mit Assistenzbedarf: Ein inklusionsorientierter Ansatz?

Artikel-Metadaten

von Frederik Poppe, Nina Stoffers

Erscheinungsjahr: 2022/2022

Peer Reviewed

Abstract

Der Artikel zeichnet die Entwicklung von Arbeitsplätzen für Künstler*innen mit Assistenzbedarf in Deutschland nach und stellt verschiedene Formate wie z.B. Ateliers in Werkstätten für Menschen mit Behinderung oder Außenarbeitsplätze in einem Theater vor. In der Debatte um einen inklusionsorientierten Kunst- und Kulturbetrieb finden in jüngster Zeit z.B. durch Modellprogramme und neue Organisationsformen (Stichwort: anderer Leistungsanbieter) weitere Entwicklungsschritte statt, bei denen es zu fragen gilt, inwiefern die Rahmenbedingungen das Wunsch- und Wahlrecht für Menschen mit Behinderung im Arbeitskontext strukturell ermöglichen, sodass dieses nicht weiterhin auf Zufällen beruhen muss.

Definitorische Annäherungen

>> Kunstbegriff

Wenn wir im Folgenden von Kunst sprechen, dann meinen wir eine Tätigkeit, die verknüpft ist mit dem inneren Bedürfnis, sich mittels bestimmter Techniken – einer künstlerischen Sprache, wie z.B. Bildender Kunst, Literatur, Musik, Theater, Tanz etc. – auszudrücken. Die Erzeugung wie auch die Wahrnehmung von Kunst (Produzent*in – Rezipient*in) sind ästhetische und kommunikative Vorgänge. In allen Kunstgattungen knüpfen wir an historische Überlieferungen an.

>> Künstler*innenarbeitsplatz

Eine von vielen geteilte und übereinstimmende Definition eines Künstler*innenarbeitsplatzes steht bis dato noch aus. Aus unserer Sicht ist es zentral, dass

  • die rechtlichen Rahmenbedingungen ermöglichen, dass die künstlerische Tätigkeit einen Großteil bzw. die gesamte Arbeitszeit ausmacht,
  • die Künstler*innen ein Bedürfnis haben, sich konstant künstlerisch auszudrücken und diesem Bedürfnis in einer kreativen Arbeitsatmosphäre nachgehen können,
  • es sich nicht um therapeutische oder freizeitpädagogische Maßnahmen handelt,
  • die künstlerischen Produkte der Öffentlichkeit zugänglich gemacht werden (z.B. durch Publikationen, Aufführungen, Ausstellungen).

>> Geschützte Ateliers in Deutschland

1966 gründet Anne Dore Spellenberg die Kreative Werkstatt in Stetten / Baden-Württemberg. Fortan arbeiten Menschen mit kognitiver Behinderung in einem Atelier in Trägerschaft der Diakonie Stetten. Jahre später trägt die Wanderausstellung „Künstler aus Stetten“ dazu bei, die Werke von Künstler*innen mit Assistenzbedarf sichtbar zu machen und Begegnungen zu schaffen (vgl. Poppe 2012, Diakonie Stetten 2020). Die Kreative Werkstatt gilt als erste Institution dieser Art im deutschsprachigen Raum und damit als Vorbild für zahlreiche Ateliergründungen in den 1970er bis 1990er Jahren. In Stetten werden Menschen mit Behinderung von der Arbeit in einer Werkstatt für behinderte Menschen (WfbM) freigestellt, um für einige Stunden pro Woche in der Kreativen Werkstatt einer zweiten Beschäftigung nachzugehen. Die künstlerische Nebentätigkeit ist für viele Teilnehmende dieses Programms erfüllend, und sie äußern den Wunsch, in Vollzeit künstlerisch zu arbeiten.

Entwicklung des Formats Künstler*innenarbeitsplätze

Mithilfe des 1985 gegründeten gemeinnützigen Vereins „Freunde der Schlumper“ und der damaligen Behörde für Arbeit, Gesundheit und Soziales wurde 1993 das Arbeitsprojekt „Schlumper von Beruf“ in Hamburg ins Leben gerufen (vgl. Mürner 2020). Viele geschützte Ateliers und Werkstätten forderten seitdem sogenannte Künstler*innenarbeitsplätze unter dem Dach einer WfbM. So wurde z.B. das 1992 gegründete Atelier Geyso20 als Modellprojekt der Bundesvereinigung Lebenshilfe konzipiert und versteht sich als Ort künstlerischer Produktion, der sowohl den notwendigen Freiraum als auch den verlässlichen Rahmen für die künstlerische Arbeit bietet. 2011 wurde ein Ortswechsel vollzogen: Künstlerische Produktion findet nun in direkter Nachbarschaft zur hauseigenen Galerie statt, in der inzwischen auch die Sammlung Geyso20 beheimatet ist (vgl. Geyso20:2020).

Einer künstlerischen Tätigkeit soll in Teil- oder Vollzeit gleichberechtigt neben anderen Arbeitsbereichen in Werkstätten oder Ateliers nachgegangen werden. Dies ermöglicht einigen künstlerisch begabten und interessierten Menschen mit Behinderung eine Tätigkeit auszuüben, die ganz im Sinne der 2009 ratifizierten Behindertenrechtskonvention der Vereinten Nationen (UN-BRK) eine aktive Rolle im Bereich Kulturarbeit vorsieht: „Die Vertragsstaaten treffen geeignete Maßnahmen, um Menschen mit Behinderungen die Möglichkeit zu geben, ihr kreatives, künstlerisches und intellektuelles Potenzial zu entfalten und zu nutzen, nicht nur für sich selbst, sondern auch zur Bereicherung der Gesellschaft.“ (UN-BRK Art. 30 (2)).

Dabei ist zu berücksichtigen, dass die Voraussetzung für professionelle künstlerische Arbeit ein nachhaltiges Interesse und ein hohes Maß an Organisation und Disziplin seitens der Künstler*innen voraussetzt; teilweise ist in diesem Kontext Assistenz notwendig. Einige Ateliers und Werkstätten praktizieren eine Probezeit oder nutzen den Berufsbildungsbereich (BBB), um Begabung, Ausdauer und Assistenzbedarfe festzustellen. Im Anschluss ist es in einigen Institutionen möglich, einer künstlerischen Tätigkeit im Arbeitsbereich nachzugehen.

Von den über dreißig Künstler*innen im Atelier Geyso20 sind im Jahr 2020 acht in Vollzeit tätig (vgl. Geyso20:2020). In anderen Institutionen sind ähnliche Entwicklungen zu beobachten. Die folgende Tabelle zeigt exemplarisch unterschiedliche Organisations- und Finanzierungsformen bundesweit.

Organisations- und Finanzierungsformen von Arbeitsplätzen von Künstler*innen (Stand 2020)

Abb. Poppe-Stoffers

Wie Strukturprogramme das System öffnen können:
CONNECT – Kunst im Prozess von EUCREA

Ein Beispiel für die Verbesserung des Zugangs zum künstlerischen Arbeiten wie zum Kulturbetrieb ist das Modellprojekt „CONNECT– Kunst im Prozess“ von EUCREA. Der Dachverband setzt sich seit über 30 Jahren für die Interessen von Künstler*innen mit Behinderung im deutschsprachigen Raum ein (vgl. Leitbild von EUCREA auf der Website, EUCREA 2020). Im Positionspapier „Diversität im Kunst- und Kulturbetrieb in Deutschland: Künstler*innen mit Behinderung sichtbar machen“ (2018) weist der Verband darauf hin, dass es „neuer, sich öffnender Strukturen – sowohl im Kunst- und Kulturbetrieb als auch in der Behindertenhilfe“ bedarf (EUCREA 2018:6), um die kulturelle Teilhabe von Menschen mit Beeinträchtigungen nachhaltig zu verbessern.

Seit 2015 initiiert und begleitet EUCREA mit verschiedenen Strukturprogrammen Kooperationen zwischen Einrichtungen der Behindertenhilfe und Institutionen des Kulturbetriebs, um inklusive Strukturen in Regeleinrichtungen und -institutionen voranzubringen (ARTplus 2015-2017, CONNECT 2018-2021, ARTplus Ausbildung 2021-2023). Ziel der Modellprojekte ist es, eine langfristige Zusammenarbeit zwischen den bereits vorhandenen Systemen des Kulturbetriebs und der Behindertenhilfe aufzubauen, um dauerhafte Lösungen in Bezug auf Bildung und Arbeit zu entwickeln. Dies kann eine langfristig angelegte Kooperation sein, aber auch z.B. ein WfbM-Künstler*innenarbeitsplatz.

Im Rahmen von CONNECT sind das Theater der Jungen Welt und die Lindenwerkstätten der Diakonie Leipzig Mitte 2019 eine Kooperation eingegangen. Mithilfe der Begleitung von CONNECT erprobte das Theater die Arbeitsstruktur des Hauses für Menschen mit Behinderung. Zunächst ging es um die Begegnung der in unmittelbarer Nachbarschaft gelegenen Institutionen: Einige am Bereich Kultur interessierte Beschäftigte aus den Lindenwerkstätten lernten während einer ersten Hospitation verschiedene Bereiche des Theaters, wie Besucher*innenservice, Requisiten, Kostüme und Ausstattung, kennen und konnten sich in unterschiedlichen Tätigkeiten ausprobieren.

Für zwei Personen kristallisierte sich sehr schnell heraus, dass sie gerne und möglichst langfristig am Theater eingebunden sein wollten. Ein Teilnehmer hospitierte im Besucher*innenservice des Theaters und überzeugte mit seinen charmanten und humorvollen Ansagen für das Publikum und einem sehr guten Blick für die wesentlichen Dinge. Er fühlte sich wohl im Theater und in einer Arbeitsatmosphäre, die sein Talent und seine Lust an Kommunikation förderte. Mit ihm gemeinsam konnte ein Außenarbeitsplatz zwischen der WfbM und dem Theater vertraglich geregelt werden, sodass er abwechselnd sowohl in der Werkstatt als auch im Theater im Besucher*innenservice arbeiten kann (ein Tag pro Woche im Theater). Die sich aufgrund der Corona-Pandemie häufig veränderten Konzepte und Hygienemaßnahmen waren für ihn nicht ganz leicht, aber er meisterte alles mit seinem Charme und seiner großen Freude an der Arbeit.

Auch für eine weitere Teilnehmerin aus dem Arbeitsbereich der Lindenwerkstätten ist das Theater ein Ort, an dem sie sich von der ersten Minute an richtig und aufgehoben fühlte: Sie hat vor allem in der Abteilung Ausstattung (Bühnenbild, Modelle) und Requisite ihre Leidenschaft einbringen können, da sie in ihrer Freizeit schon lange eigene künstlerische Arbeiten in Form von großformatigen Masken und Skulpturen anfertigt. Während einer Hospitation konnte sie sich mit eigenen Ideen für das Bühnenbild der nächsten Produktion künstlerisch beteiligen und erstellte beispielsweise ein Modell. Die Interaktion und die Kommunikation mit den Mitarbeitenden des Theaters verliefen insgesamt gut, wenngleich für die gehörlose junge Frau eine Gebärdendolmetscherin aus Finanzierungsgründen nur an einigen Tagen der Hospitation assistieren konnte. Sie ist sehr selbstständig, hat viele Ideen und kann gut allein arbeiten. Da sie allerdings nicht lesen und schreiben kann, brauchen sie und das Theaterteam zumindest in einigen Momenten eine Assistenz. Neben der punktuellen Begleitung durch eine*n Dolmetscher*in in den ersten Tagen sowie in besonders stressigen Momenten sollte auch eine Begleitung durch Praktikant*innen aus einem der Häuser behilflich sein. Ausgetestet wurde zudem, ob sie mit einem Piktogramm-Wörterbuch, ergänzt durch ein Gebärdensprachalphabet und Fotos aus dem Theater, unterstützt werden kann. Eine stabile Eingliederung konnte jedoch (noch) nicht realisiert werden. Durch die coronabedingten Schließungen des Theaters war die Ausstattung stark überlastet und es war nicht möglich, die junge Frau sinnvoll einzubinden. <Um den Kontakt zum Theater aufrecht zu erhalten, hat sie regelmäßig Theaterstücke besucht und für eine Produktion in der Tonwerkstatt der WfbM kleine Merchandise-Artikel hergestellt, die über die Theatertheke verkauft wurden. Das Theater bleibt dran, um im engen Austausch mit den Gewerken zu besprechen wie ein kontinuierlicher Arbeitsplatz und ein stabiler Arbeitsplan eingerichtet werden können.

Interessant ist eine nicht nur definitorische Frage: Im Besucher*innenservice findet – im Gegensatz zur künstlerischen Arbeit im Ausstattungsbereich – keine künstlerische Produktion statt. Die Tätigkeit kommt den kommunikativen Fähigkeiten des Werkstattbeschäftigten sehr entgegen, aber können wir hier von einem künstlerischen Arbeitsplatz (s. Annäherungen an eine Definition zu Beginn des Artikels) sprechen? Da sich der Außenarbeitsplatz im Kontext eines Kulturbetriebs befindet und sich der Werkstattbeschäftigte in dieser Arbeitsatmosphäre des Theaters sehr wohl fühlt, kann durchaus von einer kulturellen Spezifik des Arbeitsplatzes im Sinne einer Professionalisierung im Kontext von Kunst und Kultur ausgegangen werden. Dennoch bleibt die Frage nach der Definitions- und damit auch Handlungsmacht von Nichtbehinderten als sogenannten Gatekeepern: Wer entscheidet eigentlich, was Kunst ist und was nicht? Wer legt fest, wann ein Bild für eine Ausstellung fertig ist oder ob nicht doch noch etwas Rot fehlt? Wie muss die vielfach beschworene künstlerische Qualität beschaffen sein, damit ein Stück aufführungsreif ist?

Die Anbahnung der Außenarbeitsplätze im Rahmen von CONNECT war eine Aufgabe, die sehr angewiesen ist auf den Willen, das Verständnis, die Wertschätzung und die Geduld der Mitarbeitenden der beiden Häuser wie auch der Künstler*innen mit Assistenzbedarf selbst. Es wird auch an diesem Beispiel deutlich, dass ohne Eigenmotivation, Disziplin und Ausdauer eine solche Aufgabe nicht zu stemmen ist. Es bleibt zudem eine Herausforderung, die Systeme des Theaterbetriebs und der WfbM in einer gut funktionierenden Zusammenarbeit am Laufen zu halten.

Interview

Drei Fragen an Paula Gehrmann, die als Künstlerin die Offene Kunstwerkstatt (OKW) der Lebenshilfe Leipzig e.V. begleitet. Im Rahmen von CONNECT hat die OKW mit der Halle 14, Zentrum für zeitgenössische Kunst, kooperiert.

Ihr bezeichnet euch als „Kunstwerkstatt“. Was heißt das konkret?

Eine Werkstatt ist zuerst einmal eine Arbeitsstätte, in der Werkzeuge und fachliche Unterstützung angeboten werden, um etwas zu produzieren oder zu reparieren. Für die OKW trifft dies zu, nur arbeiten hier nicht nur Handwerker*innen, sondern eben auch Künstler*innen.

Ein Grundpfeiler der Gruppe ist die stetige Professionalisierung des künstlerischen Arbeitens im Individuellen sowie in der Gemeinschaft. Wo es nötig ist, wird dabei für die Gruppenmitglieder Assistenz geleistet, um physische und mentale Barrieren abzubauen. Wichtig ist uns, dass diese Assistenz ein transparenter Prozess bleibt, in verschiedenen Formen auftritt und in der Zusammenarbeit ständig überprüft und verbessert wird. Die Assistenz soll das unterstützen, was ein*e Künstler*in ohne Assistenzbedarf selbstständig lösen kann: die Arbeit selbst ins Zentrum zu stellen, als Akteur*in sichtbar zu sein und selbstreflexiv zu arbeiten.

2019 und 2020 hat sich die OKW näher mit dem Themenkomplex Arbeit beschäftigt. Unter dem Titel WerkstattKunst wurden und werden verschiedene Ideen von Arbeitsplätzen und -räumen untersucht, um herauszufinden, was für uns die (gute) Arbeit in einer Werkstatt ausmacht. In einer Ausstellung, mehreren Workshops und einer Publikation spiegeln sich die Verortungen zwischen Atelier und Ausstellungsraum sowie der Werkstatt für Menschen mit Behinderung wider. Begriffe wie Werkstatt und, analog, Workshop oder Kollaboration und Partizipation werden in der zeitgenössischen Kunst und ihrer Vermittlung häufig benutzt, was eine Beschäftigung und eine Positionierung zu diesem Themenfeld beim inklusiven Arbeiten interessant und wichtiger erscheinen lässt.

Ist die OKW für dich ein soziales Beschäftigungsprojekt oder künstlerische Arbeit?

Diese Frage der Einordnung ist in der OKW immer präsent. Auch wenn es während der Produktion nicht immer entscheidend ist, ob wir nun Sozialarbeit oder künstlerische Arbeit leisten, achten wir besonders bei der Kommunikation als Gruppe nach außen auf die Nuancen, Gemeinsamkeiten und Differenzen dieser Problematik. Teilweise geht es nur um die Auslegung der Bedeutung im Handeln: Es scheint oft marginal, und doch wirft der Diskurs ein Licht zurück auf das jeweilige Kunstverständnis. Wir als Gruppe therapieren nicht durch die Kunst Menschen, und doch haben das gemeinschaftliche Arbeiten und die gemeinsame Suche nach Ausdruck etwas Therapeutisches. Der Unterscheid ist, dass wir als Beteiligte ohne Behinderungserfahrung zwar Assistenz leisten, uns aber auch immer als Individuen persönlich involviert verstehen. Wir sind, Behinderung oder nicht, auf der Suche nach Sprache und Gestaltungsspielräumen.

Was unterscheidet euch von einem künstlerischen Freizeitangebot im Rahmen der arbeitsbegleitenden Maßnahmen einer WfbM?

Für mich liegt der Unterschied darin, dass wir uns nicht als Therapeut*innen verstehen, sondern als Teil einer Gruppe. Es gibt zwar Momente, in denen wir anleiten bzw. Gäste einladen, die uns weiterbilden und auf die wir uns einstellen, um etwas zu lernen. Aber wir bewegen uns ganz klar weg von einer Idee der Kunst als Lösung und Integration von Menschen mit Behinderung. Wir wollen ein breites künstlerisches Handeln als gesellschaftliches Potenzial provozieren. Wir spannen ein Feld auf, in dem ergebnisoffen gehandelt und eine Entscheidung durch Wahlmöglichkeiten unterstützt wird. Dadurch nähern wir uns einem freien Willen. Durch ein breites Buffet an Know-how, Hilfsmitteln und Kollaborationen entsteht Raum für das, was im Dialog mit dem Selbst und unserer Umgebung entstehen will. Dazu gehört auch, dass wir Scheitern und Schwächen wirksam machen.

Die Fragen stellte Nina Stoffers.

 

Organisationsentwicklung von künstlerischen Arbeitsplätzen

Der Weg in eine Kulturinstitution ist bei vielen Künstler*innen mit Assistenzbedarf von glücklichen Zufällen bestimmt. Dies soll am Beispiel eines künstlerischen Ateliers skizziert werden: Der Beginn einer Tätigkeit läuft häufig folgendermaßen ab: Eine Fachkraft erkennt eine künstlerische Neigung bei einer Person und vermittelt diese probeweise an ein Atelier. Stellt sich heraus, dass die Person interessante Ideen verfolgt und die notwendige Ausdauer für eine Arbeit im Kulturbereich mitbringt, ist ein Wechsel des Arbeitsbereichs möglich – vorausgesetzt, dass die Werkstatt über ein entsprechendes Angebot verfügt. Hier könnten eine engere Kooperation mit Schulen (Übergang Schule – berufliche Tätigkeit), Ausbildungsstätten (vgl. das Strukturprogramm ARTplus von EUCREA sowie das neue ARTplus Programm, das sich 2021 bis 2023 explizit dem Bereich Ausbildung und Qualifizierung widmet) und Planungswerkzeugen (z.B. persönliche Zukunftsplanung) helfen, um frühzeitig künstlerisches Interesse, Talente und eine passionierte Arbeitshaltung zu erkennen. Im Moment mangelt es vielerorts an niedrigschwelligen Einstiegsmöglichkeiten. In diesem Beitrag wurden bereits erste Programme erwähnt, die ein weniger zufälliges Zustandekommen eines sogenannten Künstler*innenarbeitsplatzes fokussieren. Diese Angebote müssten in Zukunft ausgebaut werden.

Perspektiven

Die Eingliederung von Künstler*innen mit Assistenzbedarf innerhalb der WfbM-Struktur hat zur Entwicklung eines parallelen Kunst- und Kulturbetriebs beigetragen, der sich nur punktuell mit dem Regelbetrieb überschneidet (vgl. Positionspapier Diversität von EUCREA 2018:10). Das Bundesteilhabegesetz (BTHG) sieht vor, andere Leistungsanbieter (aLA) als Alternative zur WfbM zu etablieren. Seit Januar 2018 besteht die Möglichkeit, eine entsprechende Zulassung zu beantragen und vertragliche Vereinbarungen abzuschließen (vgl. Klarer Kurs 04/2019). Dabei sind die gleichen Voraussetzungen wie in der WfbM zu erfüllen, andere Leistungsanbieter müssen jedoch nicht über eine Mindestplatzanzahl verfügen und haben Freiräume in der Gestaltung der Ausstattung. Die Leistungsangebote können neben einem Arbeitsbereich auch den Berufsbildungs- oder den Eingangsbereich umfassen. Kleinere Anbieter haben die Möglichkeit, Arbeitsplätze anzubieten, die auch in Betrieben des allgemeinen Arbeitsmarktes angesiedelt sein könnten. Es besteht keine Aufnahmepflicht wie in der WfbM (vgl. Jürgens 2017). Gegenwärtig sind im Portal Rehadat allerdings nur insgesamt 86 Adressen anderer Leistungsanbieter gelistet (vgl. Rehadat 2022), was damit zusammenhängen könnte, dass die Zulassung in einigen Bundesländern kompliziert und langwierig ist. Poppe und Blach führten 2021/22 eine Studie durch, in der qualitative Telefoninterviews mit aLA Fachkräften geführt wurden (Stand Januar 2022: n=67; Rücklaufquote 66% aus 13 Bundesländern). Ziel war eine Ist-Stand Erhebung mit dem Fokus auf Hürden im Zulassungsprozess sowie einer möglichen Inklusionsorientierung von aLA. Ein Ergebnis der Studie ist, dass sich fast alle aLA als inklusionsorientiert bezeichnen. Ihr Ziel ist es, Menschen mit Behinderung auf den ersten Arbeitsmarkt zu vermitteln, einige streben darüber hinaus Zertifizierungen an.

Künstlerische Ateliers könnten als Vorbild für Alternativen zur WfbM dienen, da einige Institutionen bereits seit Jahren in einer Struktur organisiert sind, die anderen Leistungsanbietern ähneln: Manche künstlerischen Werkstätten arbeiten räumlich getrennt vom Hauptgebäude / Campus der WfbM (Beispiele: Die Schlumper, Atelier Goldstein, Geyso20) und haben Vorbildcharakter in Bezug auf das Wunsch- und das Wahlrecht. Sie zeichnen sich häufig durch individualisierte Arbeitsformen und durch flexible Rahmenbedingungen aus.

Das Kunsthaus der Gold-Kraemer-Stiftung kathe:k in Pulheim (NRW) ist das erste Atelierhaus in Deutschland, das in der Organisationsform eines anderen Leistungsanbieters besteht. Damit ist es möglich, sich auf die fachlich-künstlerische Arbeit zu fokussieren und räumliche, materielle und personelle Ressourcen im Atelierbetrieb vornehmlich auf die künstlerische Arbeit hin auszurichten (vgl. Gold-Kraemer-Stiftung 2021). „Als Vorbild dienen dabei Atelierhäuser und künstlerisch-kreative Berufsfelder des ersten Arbeitsmarktes. Talentierte Menschen mit Beeinträchtigung können sich so im geschützten Rahmen über ihre künstlerische Tätigkeit identifizieren, ein Selbstbild als Künstler*in und Karriereziele entwickeln und gleichzeitig temporäre Übergänge in Aus- und Weiterbildungsangebote und künstlerisch-kreative Berufe des regulären Kunst- und Kulturbetriebs erproben.“ (ebd.). Poppe und Blach führten eine Einzelfallstudie im Kunsthaus durch, in der die Perspektive von aLA Beschäftigten im kulturellen Bereich fokussiert wurde. Der Weg zur Organisationsform anderer Leistungsanbieter war und ist für das Kunsthaus voller Zulassungshürden und bürokratischer Herausforderungen. Diese gilt es abzubauen, um zukünftig weitere Ateliers in dieser Form zu gründen oder umzustrukturieren. Die Beschäftigten im aLA gaben in Interviews an, dass sie in der Institution ein hohes Maß an Selbstverwirklichungsmöglichkeiten haben. Einige planen die Weiterbildungsangebote des aLA zu nutzen, um perspektivisch auf dem ersten Arbeitsmarkt Fuß zu fassen.

Künstlerische Ateliers und andere Kreativwerkstätten (z.B. Theaterensembles, Musikgruppen, Kunsthandwerk) im Kontext von WfbM stellen nur einen Nischenbereich an der Teilhabe des Arbeitslebens dar. Sie sind jedoch häufig als Organisationsform innovativ und können als Vorbild für die Umstrukturierung anderer Bereiche dienen. Das Budget für Arbeit und die anderen Leistungsanbieter können genutzt werden, um das Wunsch- und das Wahlrecht für Menschen mit Behinderung in einigen Bereichen besser umzusetzen und einen Schritt in eine inklusionsorientierte Arbeitswelt zu gehen. Als flexible, dezentral organisierte Organisationsform sind andere Leistungsanbieter gut für spezialisierte, kulturelle Produktionsstätten geeignet. Aber auch für andere Bereiche, in denen Menschen mit Assistenzbedarf arbeiten, bietet das BTHG sinnvolle Rahmenbedingungen, die es zu nutzen gilt.

Verwendete Literatur

  • Diakonie Stetten (2020): https://www.diakonie-stetten.de/die-diakonie-stetten/ueber-uns/geschichte/ (abgerufen am 27.08.2020).
  • EUCREA (2020): Leitbild. https://EUCREA.de/ (abgerufen am 27.08.2020).
  • EUCREA (2019): Connect 2018-2020. https://www.EUCREA.de/Connect-2018-2020 (abgerufen am 27.08.2020).
  • EUCREA (2018): Diversität im Kunst- und Kulturbetrieb in Deutschland: Künstler*innen mit Behinderung sichtbar machen. Ein Positionspapier von EUCREA. https://www.eucrea.de/images/downloads/Diversitaet_Online_4.pdf (abgerufen am 27.08.2020).
  • EUCREA (2017): ARTplus. Strukturprogramm Kunst und Inklusion. https://www.eucrea.de/aktivitaeten/strukturprogramme/artplus-2015-2017 (abgerufen am 27.08.2020).
  • Geyso20 (2020): https://www.geyso20.de/atelier/geschichte (abgerufen am 27.08.2020).
  • Gold-Kraemer-Stiftung (2021): https://kaethe-k.de/#kunsthaus (abgerufen am 14.09.2021).
  • Jürgens, Andreas (2017): Das BTHG als Reform der beruflichen Teilhabe. Auswirkungen auf die Werkstätten für behinderte Menschen. In: Bundesvereinigung Lebenshilfe (Hrsg.): Teilhabe durch Arbeit. Ergänzbares Handbuch zur beruflichen Teilhabe von Menschen mit Behinderung. Marburg: Bundesvereinigung Lebenshilfe.
  • Klarer Kurs (2019): Magazin für berufliche Teilhabe. Kassel: 53° Nord.
  • Mürner, Christian (2020): Der Beteiligungscharakter der Kunst – Art brut/Outsider Art und Inklusion. Weinheim/Basel: Beltz Juventa.
  • Poppe, Frederik/Georg, Alexander (2019): Recherche zum aktuellen Stand von Künstler*innenarbeitsplätzen in Deutschland, Hochschule Merseburg.
  • Poppe, Frederik (2012): Künstler mit Assistenzbedarf. Frankfurt a. M.: Lang.
  • Rehadat (2022): https://www.rehadat-adressen.de/adressen/arbeit-beschaeftigung/andere-leistungsanbieter-nach-bthg/ (abgerufen am 25.11.2022).
  • UN-Behindertenrechtskonvention: Übereinkommen über die Rechte von Menschen mit Behinderungen (UN-BRK), Art. 30 (2008): https://www.behindertenrechtskonvention.info (abgerufen am 16.11.2022).

Anmerkungen

Der vorliegende Text basiert auf dem Beitrag:

Poppe, Frederik/Stoffers, Nina (2021): Arbeitsplätze für Künstler*innen mit Assistenzbedarf. In: Bundesvereinigung Lebenshilfe (Hrsg.): Teilhabe durch Arbeit. Ergänzbares Handbuch zur beruflichen Teilhabe von Menschen mit Behinderung (6.2.7). Marburg: Bundesvereinigung Lebenshilfe.
Er wurde zudem leicht überarbeitet im Rahmen der EUCREA-Dokumentation des CONNECT-Projektes publiziert (2022).

Zitieren

Gerne dürfen Sie aus diesem Artikel zitieren. Folgende Angaben sind zusammenhängend mit dem Zitat zu nennen:

Frederik Poppe, Nina Stoffers (2022/2022): Arbeitsplätze für Künstler*innen mit Assistenzbedarf: Ein inklusionsorientierter Ansatz?. In: KULTURELLE BILDUNG ONLINE: https://kubi-online.de/artikel/arbeitsplaetze-kuenstler-innen-assistenzbedarf-inklusionsorientierter-ansatz (letzter Zugriff am 16.07.2024).

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Dieser Artikel wurde dauerhaft referenzier- und zitierbar gesichert unter https://doi.org/10.25529/z7rz-1q50.

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