Alt und behindert: Kulturelle Bildung und Teilhabe für ältere Menschen mit zugeschriebener geistiger Behinderung im Museum

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von Dorothee Mammel

Erscheinungsjahr: 2025

Peer Reviewed

Abstract

Durch die demografische Entwicklung und mit steigendem Alter wächst der Anteil älterer Menschen mit Behinderung in der Bevölkerung. Der gesellschaftlichen Relevanz von Behinderung im Alter und der Bedeutung von Inklusion stehen eingeschränkte oder fehlende kulturelle Teilhabemöglichkeiten gegenüber. Ältere Menschen mit zugeschriebener geistiger Behinderung sind demografisch und historisch bedingt eine in den letzten Jahrzehnten neu entstandene Bevölkerungsgruppe. Während das Angebot für demenzerkrankte Menschen in der Kulturellen Bildung stark gestiegen ist, ist diese Personengruppe noch kaum im gesellschaftlichen Bewusstsein und damit im Fokus kultureller Bildungs- und Vermittlungsarbeit angekommen. Aus der Perspektive der Museumspädagogik untersuchte daher die wissenschaftliche Abschlussarbeit Voraussetzungen für die kulturelle Teilhabe und Inklusion älterer Menschen mit zugeschriebener geistiger Behinderung im Museum. Neben der interdisziplinären Erschließung geeigneter Methoden und Praktiken für eine zielgruppenorientierte Vermittlungsdidaktik wurden in der qualitativen Studie aus der Sicht von Expert*innen in eigener Sache die Zugangsvoraussetzungen für die kulturelle Teilhabe dieser Personengruppe als Besuchende im Museum untersucht. Zu den Ergebnissen zählt auch die Frage, inwieweit Museumspädagogik zur Vermeidung von Intersektionalität, der Gefahr von Mehrfachdiskriminierung bei Alter und (zugeschriebener geistiger) Behinderung, beitragen kann.

Vor dem Hintergrund der immer älter und auch in den Altersgenerationen diverser werdenden Gesellschaft ist „die selbstbestimmte, gleichberechtigte und mitverantwortliche Teilhabe aller älteren Menschen in Deutschland“ das Leitbild des 2025 veröffentlichten Neunten Altersberichts der Bundesregierung Alt werden in Deutschland. Vielfalt der Potenziale und Ungleichheit der Teilhabechancen (BMFSFJ 2025:48).

Die Fachdisziplin der Kulturgeragogik forscht zu Kultureller Bildung im Alter und setzt sich mit der Didaktik, Methodik und den Inhalten des Lernens älterer Menschen in der Kulturellen Bildung auseinander (siehe: Kim de Groote „Entfalten statt liften"). Ähnliches gilt für die Fachdisziplin Museumspädagogik, die als Praxisfeld der Kulturellen Bildung im Museum Bildungs- und Vermittlungskonzepte auch für ältere Menschen entwickelt. Elke Kollar benennt den demografischen Wandel als Chance, um Alter im Museum neu zu denken, durch neue Altersbilder und innovative Vermittlungsformen und -wege (Kollar 2018:3). Damit Museumspädagogik und Kulturelle Bildung der gesellschaftlichen Vielfalt auch im Alter gerecht werden können, sind Kenntnisse der heterogenen Personengruppen und deren Lebenslagen, sowie passende Bildungskonzepte erforderlich (siehe: Katja Watermann „Alt. Intelligenzgemindert. Straffällig. Vergessen?" und Nina Lauterbach-Dannenberg „Kulturelle Teilhabe Älterer in ländlichen Räumen“), um strukturelle Benachteiligungen aufzudecken, Barrierefreiheit zu schaffen, Neues zu entwickeln und die kulturelle Teilhabe möglichst aller älteren Menschen zu ermöglichen.

Der Vielfaltsdimension Behinderung kommt im Alter eine zentrale Bedeutung zu. In der Altersgruppe der über 65jährigen haben über 50 Prozent eine Schwerbehinderung (BMAS 2021:46), der Gesamtanteil älterer Menschen mit Behinderung an der Bevölkerung liegt bei rund zwanzig Prozent (Der Paritätische 2019:7). Die biografischen Lebenswelten älterer Menschen mit erworbenen Behinderungen und älterer Menschen mit angeborenen Behinderungen unterscheiden sich meist grundlegend. Entscheidend für die Teilhabechancen ist der Zeitpunkt des Eintritts einer Behinderung, vor allem in Zusammenhang mit schulischer Bildung und dem Erwerbsleben, was Auswirkungen auf den gesamten Lebenslauf hat (BMFSFJ 2016:94). Erst 2016 wurden die spezifischen Lebenslagen und Bedarfe von Menschen, die mit einer angeborenen oder früh erworbenen Behinderung alt geworden sind über den Siebten Altersbericht der Bundesregierung in die öffentliche Wahrnehmung gebracht (BMFSFJ 2016:93-97 und Zander 2016).

Die soziale Selektivität bei der Teilhabe vor allem öffentlich finanzierter Kulturangebote ist nach wie vor evident. Die empirische Publikumsforschung zeigt, dass etwa 50 Prozent der deutschen Bevölkerung zu den Nicht-Besuchenden von Kulturangeboten zählen (siehe: Thomas Renz „Nicht-BesucherInnen öffentlich geförderter Kulturveranstaltungen") und geht davon aus, dass unterschiedliche Besuchsbarrieren besondere Relevanz haben, vor allem solche mit sozialem und subjektivem Hintergrund (Allmanritter 2019:32).

Die Zahlen der 2022 veröffentlichten Ersten repräsentativen Teilhabebefragung von Menschen mit Behinderungen in Deutschland, in der neben Privathaushalten erstmalig auch Bewohner*innen von Einrichtungen befragt wurden zeigen, dass ältere Menschen mit Behinderung besonders stark von Barrieren in der kulturellen Teilhabe betroffen sind. Diese lebten zum Erhebungszeitpunkt mit einem Anteil von 70 Prozent in Einrichtungen der Behindertenhilfe oder in Pflegeeinrichtungen. Besuchten bereits 63 Prozent der in Privathaushalten lebenden Erwachsenen mit Behinderung selten oder nie kulturelle Aktivitäten wie Konzerte, Theater oder ein Museum, waren es 87 Prozent der Personen, die in einer Einrichtung leben (BMAS 2022:67,78-79).

Die UN-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK) formuliert kulturelle Teilhabe als „das Recht von Menschen mit Behinderungen, gleichberechtigt mit anderen am kulturellen Leben teilzunehmen“ und versteht, ganz im Sinne der Kulturellen Bildung, Teilhabe sowohl als Möglichkeit zur Rezeption von Kunst und Kultur, als auch den eigenen künstlerischen Ausdruck und die eigene Kreativität entfalten zu können. Sie leitet daraus die Aufforderung an kulturelle Einrichtungen und explizit an Museen ab, barrierefrei zu werden und Zugänge zu Orten und Dienstleistungen Kultureller Bildung zu schaffen (United Nations 2006, 2009: Art. 30). Die Zielperspektive Inklusion und (kulturelle) Teilhabe der UN-BRK gilt ebenso für ältere Menschen mit Behinderung. Diese sind besonders häufig von gesellschaftlicher Ausgrenzung und einem Mehrfachrisiko von Entwertung betroffen. Artikel 8 der UN-BRK fordert daher Maßnahmen zur Bekämpfung von Vorurteilen und schädlichen Praktiken gegenüber Menschen mit Behinderung aufgrund des Alters in allen Lebensbereichen. Die defizitorientierte Wahrnehmung von Behinderung, insbesondere bei zugeschriebener geistiger Behinderung, verstärkt sich mit dem ebenfalls negativ bewerteten Merkmal Alter. Diese, als Intersektionalität bezeichnete Mehrfachüberschneidung von Diskriminierungsmerkmalen führt zu Mehrfachbenachteiligung älterer Menschen mit Behinderung in der Gesellschaft, auch im Vergleich zu älteren Menschen ohne Behinderung (Deutsches Institut für Menschenrechte 2021:1).

Kulturelle Bildung und Teilhabe im Museum im Kontext älterer Menschen mit Behinderung

Der Bundesverband Museumspädagogik benennt in seinem Positionspapier Vielfalt im Museum, dass alle Menschen unabhängig von Behinderung, Alter, Religion, Herkunft, Geschlecht oder sexueller Orientierung gleichberechtigt in einem möglichst barrierefrei für alle gestalteten Museum willkommen sind (BVMP 2024).

Museen verstehen sich als relevante Bildungsorte, die Bildungsverantwortung für die Gesellschaft übernehmen und einen Beitrag zum sozialen Zusammenhalt leisten (DMB/BVMP 2021). Der zeitgemäßen Bildung und Vermittlung im Museum liegt ein weiter Bildungsbegriff mit verschiedenen Facetten zugrunde, der auf dem Modell der Generic Learning Outcomes zur Wirkung von Lernprozessen im Museum beruht (Hooper-Greenhill 2007:44-62). Dies beinhaltet, neben der Förderung von Wissen und Verstehen, der Veränderung von Einstellungen und der Verbesserung von individuellen Fähigkeiten, gleichermaßen das Erleben von Vergnügen, von Inspiration und Kreativität (DMB/BVMP 2020:11).

Im Zusammenhang mit Alter und Behinderung stellen die mittlerweile zahlreichen Demenzangebote in Museen aller Sparten eine wesentliche Ausdifferenzierung des museumspädagogischen Vermittlungsangebotes für die ältere Generation dar und sind auch Grundlage für Forschungen (Adams/Oswald/Pantel 2022). Für Kunstmuseen wurde das Modell für die gesellschaftliche Teilhabe von Menschen mit Demenz im Museumsraum als Qualifizierungsmodul für eine sinnesorientierte Kunstvermittlungspraxis für Menschen mit Demenz entwickelt (Ganß/Kastner/Sinapius 2016).

Skizzierung der Lebens- und Bildungssituation älterer Menschen mit zugeschriebener geistiger Behinderung und Definition der Personengruppe für die Studie

Die Bandbreite der Lebensphase Alter und der Ausprägungen des Phänomens Behinderung ist groß, auch im Kontext kognitiver Beeinträchtigungen. Für die Durchführung der Studie wurden daher offizielle Parameter gewählt: das Alter ab Renteneintritt und die Definition von Menschen mit Behinderung aus dem Sozialgesetzbuch mit anerkannter Schwerbehinderung nach dem Schwerbehindertenrecht (§ 2 SGB IX).

Zur klaren Zuordnung der Behinderungsform und gleichzeitiger Abgrenzung von anderen kognitiven Einschränkungen wie Demenz wurde es erforderlich, im Rahmen der Studie den offiziellen Terminus Geistige Behinderung zu übernehmen. Geistige Behinderung wird in Medizin, Pädagogik und Sozialrecht als Sammelbegriff verwendet für ein Phänomen mit oft lebenslangen, aber verschiedenen Äußerungsformen einer unterdurchschnittlichen Verarbeitung kognitiver Prozesse und Problemen der sozialen Adaption (Haveman/Stöppler 2021:22). Er steht jedoch als stigmatisierend in der Kritik und wird von Selbstvertretungsgruppen abgelehnt (DIFGB 2025). Daher wurde für die Bezeichnung ein diskriminierungssensibler Ansatz verwendet.

Bei dieser Personengruppe handelt sich um eine zwar kleine und in den repräsentativen Erhebungen bis 2022 kaum erfasste Gruppe in Deutschland (BMAS 2021:62), die sich allerdings durch einen deutlichen Anstieg in den letzten Jahrzehnten als neue Bevölkerungsgruppe in Deutschland gebildet hat (BGW 2017:8). Dieses Phänomen ist - neben einer steigenden Lebenserwartung durch bessere medizinische und soziale Bedingungen - auf das historische Erbe in Deutschland zurückzuführen. Um die 300.000 Menschen mit Behinderungen, darunter viele die als geistig behindert galten, wurden in den nationalsozialistischen Tötungsprogrammen ermordet und damit ganze Generationen ausgelöscht (Herzog 2024:7). So sind die Nachkriegsgenerationen nun die ersten in Deutschland, die mit Behinderung älter und alt geworden sind (Haveman/Stöppler 2021:15-16). 

Der Personenkreis der aktuell älteren Menschen mit zugeschriebener geistiger Behinderung ist eine behinderungsbedingt heterogene Gruppe, die in ihrer Sozialisation hingegen überwiegend homogen ist. Mangels Wahlmöglichkeiten ähneln sich ihre Lebensläufe mit institutioneller Prägung. Viele wohnen in Einrichtungen der Behindertenhilfe oder gegen Lebensende auch in Pflegeheimen, eine unbekannte Dunkelziffer bleibt lange im Elternhaus (Haveman/Stöppler 2021:126 ff.). Ihr Arbeitsleben fand bis zum Renteneintritt meist in einer Werkstatt für Menschen mit Behinderung statt. In der Regel sind sie von Altersarmut betroffen (Haveman/Stöppler 2021:114). Aufgrund unzureichender Förderung im Lebenslauf und häufig institutionalisierter Prägung mit Fremdbestimmung gibt es wenig Erfahrung in der Gestaltung freier Zeit. Freizeitangebote finden meist über den Wohnalltag in den Institutionen der Behindertenhilfe statt. Nach Meindert Haveman und Reinhilde Stöppler stehen geragogische Konzepte zur Freizeitgestaltung auch außerhalb des Wohnbereichs erst am Anfang der Entwicklung (Haveman/Stöppler 2021:162).

Nicht selten hat diese Generation Ausgrenzungs- und Diskriminierungserfahrungen erlebt. Dies zeigt sich besonders in ihren Bildungsbiografien. In der Bundesrepublik wurde erst ab Mitte der 1960er Jahre das Sonderschulgesetz eingeführt und mit dem Aufbau von staatlichen Schulen für Geistigbehinderte begonnen (Stöppler/Wachsmuth 2010:26). Auch in der DDR wurden, trotz bestehendem Sonderschulgesetz, als geistig behindert geltende Kinder ausgeschult (Barsch 2007:77 ff.). Aufgrund der fehlenden beziehungsweise sich erst entwickelnden Bildungsmöglichkeiten mit zunächst defizitorientierten didaktischen Konzeptionen wird inzwischen von eingeschränkten Entwicklungschancen und damit Bildungsbenachteiligung gesprochen (Haveman/Stöppler 2021:61, Stöppler/Wachsmuth 2010:27-28). Daraus lässt sich folgern, dass die jetzige ältere Generation nicht nur individuell-behinderungsbedingt, sondern auch aufgrund des defizitären Bildungsangebots, im Vergleich zur heutigen jüngeren Generation über deutlich reduziertere Fähigkeiten im kognitiven Kompetenzbereich verfügt, beispielsweise der Kulturtechniken wie Lesen und Schreiben.

Körperliche und kognitive Alterungsprozesse setzen meist früher ein. Demenz im Zusammenhang mit zugeschriebener geistiger Behinderung und steigendem Alter gilt als schwer diagnostizierbar jedoch als häufig, vor allem bei Menschen mit Trisomie 21 aufgrund der genetischen Disposition (Haveman/Stöppler 2021:98-103). Unabhängig davon ist Lernen bis ins hohe Alter auch bei zugeschriebener geistiger Behinderung möglich. Dies zeigen die Ergebnisse lernpsychologischer Forschungen (Fornefeld 2020:103).

Ziel der Studie und methodische Grundlegung

Zum Zeitpunkt der Untersuchung existierten keine empirischen Erkenntnisse über die kulturelle Teilhabe dieser Personengruppe innerhalb der Kulturellen Bildung einschließlich der Museumspädagogik. Ziel war daher die Erschließung dieser noch wenig bekannten Personengruppe als Zielgruppe für die museumspädagogische Arbeit und damit für die Kulturelle Bildung, durch eine systematische und interdisziplinäre Annäherung auf didaktischer und auf struktureller Ebene. Die Hauptforschungsfrage nach den Voraussetzungen für kulturelle Teilhabe und Inklusion dieser Personengruppe beinhaltete die beiden Forschungsfragen nach den didaktischen Voraussetzungen und den Zugangsvoraussetzungen. Um Antworten auf die Forschungsfragen zu finden, wurde für die Annäherung sowohl ein theoriegeleiteter als auch ein empirischer, qualitativer Forschungsansatz gewählt.

Didaktische Elemente für ein Vermittlungskonzept der Zielgruppe – eine Annäherung

Zur Beantwortung der Forschungsfrage nach den didaktischen Voraussetzungen für kulturelle Teilhabe und Inklusion der Zielgruppe im Museum wurde für eine didaktische Annäherung interdisziplinär unter Einbeziehung der pädagogischen Nachbardisziplinen Geistigbehindertenpädagogik und Geragogik untersucht, welche didaktischen Elemente zu einem museumspädagogischen Vermittlungskonzept für diese Zielgruppe gehören und ob es – auch im Sinne des Inklusionsgedankens - Überschneidungen mit bestehenden museumspädagogischen Konzepten für ältere Menschen gibt. Diesem Vorgehen liegt die Hypothese zugrunde, dass es bei den Kennzeichen Alter und/oder kognitive Einschränkungen Ähnlichkeiten in den Erscheinungsbildern und bei den Bedarfen und Herangehensweisen in der museumpädagogischen Vermittlung gibt.

Dazu wurden die vorhandenen Konzepte aus der Museumspädagogik für Erwachsene mit  zugeschriebener geistiger Behinderung (Röhlke 2019, Knaup 2019) und der Demenzdidaktik im Museum (Ganß/Kastner/Sinapius 2016) und zentrale, nach Relevanz begründete Didaktiken aus der primären Bezugsdisziplin der Geistigbehindertenpädagogik (Speck 2018, Stöppler/Wachsmuth 2010, Bernasconi/Böing 2015) einschließlich ihrer Erwachsenenbildung (Meyer-Jungclaussen 1985, Bücheler 1999, Schlummer 2019) und Geragogik (Theunissen 2002, Buchka 2003, Skiba 2006) hinsichtlich ihrer didaktisch-methodischen Ansätze und möglicher Überschneidungen untersucht.

Zahlreiche didaktische Konzeptionen beziehen sich in ihren lerntheoretischen Grundlagen auf den Konstruktivismus nach Piaget (Gudjons/Traub 2020:236 f.). Die konstruktivistische Grundannahme, dass das, was ein Mensch wahrnimmt und was als Wirklichkeit bezeichnet wird, immer eine subjektive Erscheinung von Realität ist, lässt den Umkehrschluss zu, dass die Wahrnehmung als Konstruktion des Gehirns für jeden einzelnen Menschen plausibel ist, für einen Menschen ohne Behinderung genauso wie für einen mit (zugeschriebener geistiger) Behinderung (Bernasconi/Böing 2015:64). Dies führt auch auf pädagogischer Ebene zu einem Verständnis von Behinderung als individuelle Konstruktion. Aufgrund der Relevanz der konstruktivistischen Lerntheorie sowohl für die Museumspädagogik (Hooper-Greenhill 2007:44 ff., Noschka-Roos/Lewalter 2013:207 ff., DMB/BVMP 2020:11) als auch in der Geistigbehindertenpädagogik (Stöppler/Wachsmuth 2010:41) erscheint dieser lerntheoretische Ansatz für eine Vermittlungsdidaktik dieser Zielgruppe im Museum geeignet und kann in der Anwendung zu einer grundlegend veränderten offenen Haltung gegenüber Menschen mit zugeschriebener geistiger Behinderung und/oder Demenz in der Kulturellen Bildung führen.

In der Auswertung der untersuchten Konzepte zeigte sich, dass die wesentlichen didaktisch-methodischen Prinzipien der Geistigbehindertenpädagogik (für den Förderschwerpunkt Geistige Entwicklung, im Erwachsenenalter und im höheren Lebensalter) sich in ähnlicher Weise in den untersuchten museumspädagogischen Didaktiken und Konzepten für erwachsene Menschen mit zugeschriebener geistiger Behinderung und für ältere Menschen mit einer Demenzerkrankung wiederfinden. Daraus lässt sich schließen, dass eine (museums-)pädagogische Vermittlung bei kognitiven Einschränkungen unabhängig von deren Entstehung oder Ursache Ähnlichkeiten in der didaktischen Herangehensweise erfordert, unter Anpassung an die durch Alter(n) bedingten Gegebenheiten.

Als Synthese lassen sich folgende didaktisch-methodische Prinzipien und Ansätze zu Eckpunkten einer Vermittlungsdidaktik für die Zielgruppe Ältere Menschen mit zugeschriebener geistiger Behinderung im Museum als theoriegeleitete Hypothese zusammenführen:

Lerntheoretischer Ansatz

Konstruktivistisches Verständnis von Lernen und Behinderung

Rolle der museumspädagogisch tätigen Person: moderierend und ermöglichend

Handlungsfelder

Beziehung – Dialog – Kommunikation

Körper – Wahrnehmung – Bewegung

Didaktische Prinzipien und Praktiken
  • Reduzierung und Elementarisierung
  • Strukturierung  
  • Sinnesorientierung
  • Lebensweltbezug
  • Kompetenzorientierung
  • Handlungsorientierung
  • Aktivitätsprinzip und Kreativität
  • Wertschätzende Beziehungsgestaltung
  • Selbst- und Mitbestimmung/Wahlmöglichkeit
  • Geeignete Kommunikation
  • Zeit und Kontinuität
Methoden
Situativ abgeleitet aus den didaktischen Prinzipien mit Flexibilität und Offenheit museumspädagogischen Handelns

Das Ergebnis kann als ein Baukasten geeigneter didaktischer Elemente zum situativen Einsatz in der Museumspädagogik oder der Kulturellen Bildung verstanden werden, für eine adäquate zielgruppenorientierte Vermittlung älterer Menschen mit zugeschriebener geistiger Behinderung.

Zugangsvoraussetzungen für ältere Menschen mit zugeschriebener geistiger Behinderung im Museum - qualitative Befragung

Die Gestaltung von Rahmenbedingungen gilt nach Birgit Mandel als eine Form indirekter teilhabeorientierter Kulturvermittlung (Mandel 2016:126) und hat damit museumspädagogische Relevanz. Um Erkenntnisse über Zugangsmöglichkeiten dieser noch wenig bekannten Personengruppe erhalten zu können, wurden im empirischen Teil der Studie Interviews mit älteren Männern und Frauen mit zugeschriebener geistiger Behinderung als Expertinnen und Experten in eigener Sache in einer Wohngruppe und in einer Freizeitgruppe auf Basis von Freiwilligkeit geführt, dazu ergänzend mit zwei Gruppenleitungen als Organisatoren von Freizeitaktivitäten. Für die Durchführbarkeit der Interviews und den Erkenntnisgewinn waren die einzigen Teilnahmekriterien die Fähigkeit, sich an eigene Museumsbesuche erinnern und lautsprachlich kommunizieren zu können. Ziel dieses teilhabeorientierten Vorgehens war, direkten Einblick in Erfahrungen, Wünsche und Einschätzungen dieser Personengruppe in Bezug auf Museumsbesuche und museumspädagogische Vermittlung zu erhalten, und ihnen im Forschungsprozess eine zentrale Stimme zu geben. Zur Gewährleistung der Forschungsethik orientierten sich das Forschungsdesign und die Durchführung der Befragung an den Empfehlungen der Deutschen Interdisziplinären Gesellschaft zur Förderung der Forschung für Menschen mit geistiger Behinderung (DIFGB 2020).

Als Erhebungsmethode wurde ein qualitativer Zugang über leitfadenorientierte teilstandardisierte Experteninterviews gewählt und für die Interviewleitfäden deduktiv Frageblöcke zu Bildung, Freizeitgestaltung und Museumserfahrung gebildet, ergänzt mit Bild- und Filmmaterial für die Einschätzung der Befragten zu den in der Synthese erarbeiteten didaktischen Elementen.

Die Analyse der transkribierten Interviews erfolgte über die Qualitative Inhaltsanalyse (Mayring 2015) und führte zu einem Kategoriensystem, anhand dessen die Auswertung der Interviews vorgenommen und die Forschungsfrage beantwortet werden konnte.

Auswertung der Interviews und Voraussetzungen für die kulturelle Teilhabe im Museum

Der zentrale Unterschied zu älteren Menschen ohne Behinderung hinsichtlich der Freizeitgestaltung und damit auch dem Zugang zu kulturellen Angeboten liegt in der Wohnform des häufig institutionalisierten Wohnens von älteren Menschen mit zugeschriebener geistiger Behinderung und den getrennten Institutionen zur Freizeitgestaltung, deren Inklusionspotenzial bislang kaum praktiziert wird.

Die fehlenden Bildungsmöglichkeiten in den Biografien stellen, neben den behinderungs- und altersbedingten Einschränkungen eine Zugangserschwernis für kulturelle Teilhabe im Alter, darunter den Besuch von Museen, dar.

Die Aussagen der befragten älteren Männer und Frauen verdeutlichten die Situation der Bildungsbenachteiligung dieser Generation. Ihre schulischen und kulturellen Bildungsmöglichkeiten vor dem Ruhestand können als schwierig oder sogar als fehlend bezeichnet werden, mit Auswirkungen auf ihr Identitätsbewusstsein, etwas „nicht zu können“, wie beispielsweise Lesen oder richtig Schreiben. Ebenso bestand bei einigen ein Bewusstsein für die eigenen Alterseinschränkungen.

Die Lebensläufe der Befragten zeigten Ähnlichkeiten in ihren Abhängigkeiten von Institutionen und Personen. Museumsbesuche finden für die Befragten im Rahmen institutioneller Freizeitgestaltung der Behindertenhilfe statt, an denen sie freiwillig teilnehmen können, fast ausschließlich in Zusammenhang mit Gruppenaktivitäten der eigenen Wohngruppe und über Freizeitangebote der Offenen Behindertenarbeit (OBA). Letztere stellt als im Sozialhilferecht verankerte Unterstützungsleistung der ambulanten Eingliederungshilfe ein sozialraumorientiertes niedrigschwelliges Angebot der Behindertenhilfe dar und ist für Menschen mit Behinderung die wichtigste Anlaufstelle für mitbestimmende Freizeitgestaltung, während ein Museumsbesuch von der Wohngruppe aus schwieriger zu realisieren ist. Entscheidend für die Realisierung ist die Kenntnis der organisierenden Personen über geeignete (kulturelle) Angebote und die für Ausflüge erforderliche Personalstruktur, was in einer Wohngruppe schwieriger umzusetzen ist und in der Offenen Behindertenarbeit mit einem Freiwilligenmanagement erreicht wird. Damit zeigt sich für die Möglichkeit und Qualität der Freizeitgestaltung der Zielgruppe die Bedeutung informierten Personals, als der zentrale Zugang für ältere Menschen mit zugeschriebener geistiger Behinderung zu öffentlichen Kultur- und Bildungsangeboten, zum Beispiel im Museum.

Die befragten älteren Männer und Frauen und auch die Gruppenleitungen nannten als Hauptmotivation für ihren Besuch das Interesse für eine Ausstellung und deren Inhalt, mit Hinweis auf eine interaktive Ausstellungsgestaltung und Führung, die sinnesorientiert aktives Mitmachen und Ausstellungserleben unterstützt. Eine weitere Motivation besteht im Erleben des sozialen Miteinanders und des Dabeiseins sowie ein Café-Besuch im Zusammenhang mit dem Museumsausflug. Die meisten der genannten negativen Erfahrungen bei Museumsbesuchen gehören zum Aspekt Barrierefreiheit. Die Aussagen zu räumlicher Barrierefreiheit beziehen sich auf die (eigenen) altersbedingten Einschränkungen und als allgemein wichtig für Menschen mit Behinderungen. Die Befragten formulierten zudem ein dezidiertes Bewusstsein für Sprache und deren Verständlichkeit und forderten Angebote für besseres Hören und Sehen, mutmaßlich in Verbindung mit eigenen erlebten alters- und behinderungsbedingten Einschränkungen.

Positiv wahrgenommen wird die Atmosphäre in Museen. Darüber hinaus sind Vertrautheit mit den Räumlichkeiten und eine Person als Lotse ein wichtiger Aspekt. Hatten die Befragten gute Erfahrungen mit einem Museum hinsichtlich Vermittlung und Barrierefreiheit gemacht und waren die Inhalte für sie interessant, kommen sie gerne immer wieder.

Die meisten der den Befragten vorgestellten didaktischen Elemente aus der Studie wurden positiv bewertet, waren ihnen jedoch nicht bekannt. Demenzführungen wurden von den beruflichen Experten als geeignet erachtet, waren ihnen aber ebenfalls nicht bekannt.

Aus der Analyse der Interviews und zur Beantwortung der Forschungsfrage lassen sich als Voraussetzung für die kulturelle Teilhabe älterer Menschen mit zugeschriebener geistiger Behinderung im Museum fünf Dimensionen identifizieren:

  • Angebot
  • Barrierefreiheit
  • Information
  • Person
  • Vermittlung

Diese müssen, als weitere Voraussetzung, sowohl auf Seiten des Museums als auf Seiten der Behindertenhilfe gewährleistet werden und ineinander greifen.

Die Motivationen der Befragten für Museumsbesuche als Teil eines organisierten Freizeitprogramms machen deutlich, dass das Museum ein Ort kultureller Teilhabe, der Freizeitgestaltung und für lebenslanges Lernen für sie sein kann.

Nach der Typologie von John Falk lassen sich diese dem Besuchsmotivationsprofil der Experience seeker, der Erfahrungssuchenden zuordnen (Falk 2009:197).

Esther Gajek wies in ihrer Forschungsarbeit zu Programmangeboten für ältere Menschen im Museum darauf hin, dass der vermittelnden Person und ihrer Konstruktion von (defizitären) Altersbildern eine wesentliche Rolle bei der Art und Weise der Ausgestaltung von Programmen zukommt (siehe: Esther Gajek „Seniorenprogramme an Museen: Zur Konstruktion von Alter und der Herausforderung, ein überholtes Altersbild zu überwinden"). Im Kontext von Intersektionalität bei Alter und (geistiger) Behinderung entsteht daraus als These eine weitere Voraussetzung zur kulturellen Teilhabe der Zielgruppe im Museum: Die Profilübertragung auf einen Fachbegriff aus der Besuchsmotivationsforschung bei der Entwicklung passender museumspädagogischer Angebote als Beitrag, mögliche unbewusste negative Zuschreibungen aufgrund der Merkmale Alter und zugeschriebener geistiger Behinderung und somit die Gefahr von Diskriminierung zu überwinden. Museumspädagogik macht damit Vermittlungsangebote für Erfahrungssuchende – nicht als Alte und Schwache oder nicht Lernfähige, sondern als kulturell Teilhabende und lebenslang Lernende.

Handlungsempfehlungen

  • Eine wesentliche Zugangsvoraussetzung für einen Museumsbesuch älterer Menschen mit zugeschriebener geistiger Behinderung ist das Angebot der institutionalisierten Freizeitgestaltung innerhalb der Behindertenhilfe. Die Freizeitangebote der Offenen Behindertenarbeit (OBA) sind ein wichtiger Faktor, um als erwachsene Person und im Alter kulturelle Teilhabe erfahren zu können. Den organisierenden Personen in OBA und Wohngruppe, ihrem Engagement und ihrer kulturellen Kenntnis kommt eine wichtige Funktion zu. Im Verständnis von Gate-Keepern können sie Türen öffnen oder geschlossen halten. Sie sind Vermittelnde, Begleitende und Ansprechpartner für die Museen.
  • Damit ein Museum überhaupt als Ausflugsziel in das Freizeitprogramm der Behindertenhilfe aufgenommen wird, muss es ein Mindestmaß an Barrierefreiheit bieten für behinderungs- und altersbedingte Einschränkungen. Neben der räumlichen Zugänglichkeit sind dies Maßnahmen für besseres Hören und Sehen sowie eine durchgängige Aufbereitung der Ausstellung in Leichter Sprache.
  • Um die Zielgruppe zu erreichen ist bei der Öffentlichkeitsarbeit eines Museums ein Bewusstsein für die faktische Trennung der Lebenswelten Wohnen, Freizeit und auch Pflege im Alter von Menschen ohne und mit (zugeschriebener geistiger) Behinderung und für die Bedeutung der Gate-Keeper erforderlich. Gehen Informationen zu geeigneten Angeboten wie beispielsweise Demenzführungen an Altenservicezentren und Pflegeeinrichtungen, werden Einrichtungen der Behindertenhilfe, in denen alte Menschen leben, nicht erreicht. Dies muss konsequenterweise zu einer zweigleisigen Ausrichtung der Kommunikation und Information führen. Kooperationen mit (Freizeit-)Einrichtungen der Behindertenhilfe und Kontaktpflege mit den Gate-Keepern sind hilfreich
  • Im Museum sollten Programmangebote wie Führungen mit einer geeigneten zielgruppenorientierten Didaktik und in Leichter Sprache vorhanden sein. Eine inklusive, interaktive und sinnesorientierte Ausstellungsgestaltung erleichtert Wohngruppen und Tageseinrichtungen selbstständige terminunabhängige Gruppenbesuche, die unter ihren strukturellen Gegebenheiten einfacher umzusetzen sind. Zusatzangebote wie Kaffee, sei es im Museums-Café oder im Rahmen einer Führung stellen einen bedeutenden Mehrwert dar für das Erleben von Gesellschaft und sozialem Miteinander.
  • Die Vielfalt zeitgemäßer Bildung und Vermittlung und des erweiterten Lernbegriffs im Museum sollte an die zuständigen Personen aus der Freizeitarbeit der Behindertenhilfe kommuniziert werden. So können mögliche alte Museumsbilder bei den Gate-Keepern, die als Zugangsbarrieren wirken können, beseitigt werden.
  • Als geeignet für personale Vermittlungsangebote können die in der interdisziplinären Synthese herausgearbeiteten Elemente einer Vermittlungsdidaktik gelten, auch für einen aktiveren und handlungsorientierteren Zugang jenseits einer passiven Rolle der Zielgruppe. Aufgrund der didaktischen Überschneidungen und der Experteneinschätzungen haben museale Demenzangebote auch für ältere Menschen mit zugeschriebener geistiger Behinderung Eignungspotenzial. Eine Öffnung bereits vorhandener Demenzprogramme kann zu Inklusion auch im Alter führen.
  • Der vermittelnden Person und ihren diskriminierungsfreien Sichtweisen von Alter und (zugeschriebener geistiger) Behinderung kommt zur Überwindung von Intersektionalität eine wesentliche Rolle zu: Sie muss Inhalte verständlich und zielgruppenorientiert vermitteln und ihre eigene Haltung gegenüber älteren Menschen mit (zugeschriebener geistiger) Behinderung und mögliche persönliche Zuschreibungen reflektieren. Dabei kann die Anwendung des Besuchsmotivationsprofils hilfreich sein.

Fazit

Ältere Menschen mit zugeschriebener geistiger Behinderung sind besonders stark von Barrieren in ihren kulturellen Teilhabemöglichkeiten betroffen und in großem Maße zu den Nicht- oder Selten-Besuchenden kultureller Einrichtungen zu zählen. Ihre Bildungsbiografien sind von Ausschluss und Defizit geprägt, ihre Lebenssituation von der Abhängigkeit von Institutionen und Personen. Inklusion und Teilhabe sind ein Menschenrecht, dem sich auch die Kulturelle Bildung stellt. In der Studie wurde aus der Perspektive der Museumspädagogik das Potenzial von Museen als Orte Kultureller Bildung und Teilhabe, zur Freizeitgestaltung und lebenslangen Lernens für ältere Menschen mit zugeschriebener geistiger Behinderung deutlich und die Voraussetzungen dazu herausgearbeitet.

Eine Limitation der Ergebnisse ist im Wesen qualitativer Forschung begründet. Bei der sehr heterogenen Bevölkerungsgruppe Ältere Menschen mit den unterschiedlichsten Merkmalen zugeschriebener geistiger Behinderung kann das Erarbeitete nur einen Ausschnitt darstellen. Die homogene Sozialisierung der gegenwärtigen älteren Generation und die sozialrechtlich bedingt ähnlichen Strukturen in der Behindertenhilfe lassen allerdings auf eine Übertragung der Ergebnisse über den Kreis der Befragten hinaus schließen. Daraus ergibt sich im Sinne einer Annäherung ein Erkenntnisgewinn für die Teilhabeforschung und für die Kulturelle Bildung insgesamt, um gemäß Leitbild des Neunten Altersberichts der Bundesregierung die Teilhabechancen und Vielfalt der Potenziale auch im Alter umsetzen zu können.