Allgemeine Leitlinien für die Anleitung künstlerisch-kreativer Tools in der inklusiven Kulturarbeit
Abstract
Die lebenslange Bedeutung Kultureller Bildung für eine umfassende allgemeine Bildung und Persönlichkeitsentwicklung, für die Demokratieförderung sowie nicht zuletzt für die Entwicklung hin zu einer inklusiven Gesellschaft ist unbestreitbar. Durch spielerische und kreative Auseinandersetzung mit den eigenen Wahrnehmungs- und Handlungsmöglichkeiten können Kulturelle Bildungsmaßnahmen zur Erweiterung und Veränderung von Wahrnehmung, Bewusstsein und Handeln beitragen. Das sind wichtige Voraussetzungen, um eine positive Sicht auf Beeinträchtigung sowie auf das gemeinsame Unterrichten von Menschen mit und ohne Beeinträchtigung entstehen zu lassen. Die praktische Umsetzung Kultureller Bildungsmaßnahmen in stark heterogenen Lerngruppen stellt die Lehrkräfte allerdings vor große Herausforderungen. Handlungsempfehlungen können das Selbstwirksamkeitserleben von Lehrkräften unterstützen, was besonders auch bei der Umsetzung von Inklusion eine wichtige Rolle spielt. Der vorliegende Artikel möchte einen Beitrag zur Entwicklung von Leitlinien zur Anleitung von Tools in der inklusiven Kulturellen Bildung leisten. Der Beitrag stellt allgemeine Leitlinien für eine inklusive Kulturarbeit sowie deren forschungsbasierte Entwicklung im Rahmen des Projektes Creability - Creative methods for an inclusive cultural work in Europe vor.
Einleitung
Die lebenslange Bedeutung Kultureller Bildung für eine umfassende allgemeine Bildung und Persönlichkeitsentwicklung ist unbestreitbar (Bundesministerium für Bildung und Forschung 2012) - und das gilt für Menschen mit und ohne Beeinträchtigung gleichermaßen. In diesem Sinne fordert die Konvention über die Rechte für Menschen mit Behinderungen in Artikel 24, dass Menschen mit Behinderungen das Recht auf volle Entfaltung ihrer Persönlichkeit, ihrer Begabungen, ihrer Kreativität, sowie ihrer geistigen und körperlichen Fähigkeiten haben. Auch Artikel 30 formuliert explizit, dass Menschen mit Behinderungen die Möglichkeit bekommen sollen, „ihr kreatives, künstlerisches und intellektuelles Potenzial zu entfalten und zu nutzen, nicht nur für sich selbst, sondern auch zur Bereicherung der Gesellschaft“ (UN-BRK). Darüber hinaus wird das Recht von Menschen mit Behinderungen festgeschrieben, dass sie gleichberechtigt mit anderen am kulturellen Leben teilnehmen können und ihnen die entsprechenden Zugänge bereitgestellt werden sollen. Auf Grund der mittlerweile klaren Differenzierung von Menschen mit Beeinträchtigung und Menschen mit Behinderung im Teilhabebericht (2021), wird im Folgenden in diesem Artikel der Begriff der „Beeinträchtigung“ verwendet. Lediglich im Zusammenhang mit der UN-BRK wird von „Behinderung“ gesprochen. Mit Blick auf die gesamte Gesellschaft spielt Kulturelle Bildung eine wichtige Rolle bei der Förderung von Chancengleichheit, Demokratie und Inklusion (z.B. Burow 2010; Fuchs/Gördel/Fischer 2019; Haenisch 2012; Quinten 2016; Sturzenhecker 2019). Die Bundesregierung weist in ihrem Nationalen Aktionsplan 2.0 zur Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention ganz ausdrücklich darauf hin, dass Kunst und Kultur „als Ausdruck der Vielfalt des menschlichen Daseins eine herausragende Rolle für die Entwicklung einer inklusiven Gesellschaft (spielen). Sie spiegeln und befördern gesellschaftliche Debatten und ermöglichen durch Perspektivwechsel die Auseinandersetzung mit sich selbst ebenso wie mit dem und den Anderen. (…)“ (Bundesministerium für Arbeit und Soziales 2016:149).
Mit einer der Gründe für solche hohen Erwartungen liegt darin, dass Kulturelle Bildung kreative Räume eröffnet, in denen experimentiert werden und man sich spielerisch mit den eigenen Wahrnehmungs- und Handlungsgewohnheiten auseinandersetzen kann. Kulturelle Bildungsmaßnahmen tragen somit zu einer Erweiterung oder Veränderung von Wahrnehmung, Bewusstsein und Handlungsmöglichkeiten bei. Das sind wichtige Voraussetzungen, um eben auch eine positive Sicht auf Beeinträchtigung sowie auf das gemeinsame Unterrichten von Menschen mit und ohne Beeinträchtigung entstehen zu lassen (Quinten 2015). Ein weiterer Grund liegt auch darin, dass besonders die künstlerisch-kreative Arbeitsweise vielfältige Ausdrucksmöglichkeiten und multimodale Formate der Informationsübermittlung bietet, welche trotz verschiedener individueller Voraussetzungen von Lernenden in einer inklusiven Gruppe Lernchancen für alle bietet.
Die praktische Umsetzung Kultureller Bildungsmaßnahmen in stark heterogenen Lerngruppen stellt die Lehrkräfte allerdings vor große Herausforderungen. So weist auch die UN-BRK darauf hin, dass eine ausreichende Qualifizierung von Fachpersonal mit zu den wichtigsten Rahmenbedingungen für die erfolgreiche Umsetzung von Inklusion gehört. Um Unterrichtsqualität und Lernerfolg zu gewährleisten, müssen Lehrkräfte eine Vielfalt an individuellen Voraussetzungen in der jeweiligen Gruppe auf körperlich-motorischer, kognitiver, sprachlich-kommunikativer, emotionaler und sozialer Ebene berücksichtigen. Außerdem gehört es zu ihren Aufgaben dafür zu sorgen, dass Stigmatisierungen und Exklusion in den Lerngruppen möglichst vermieden werden und stattdessen ein wertschätzendes, respektvolles Gruppenklima entstehen kann. Nicht zuletzt liegt eine der wichtigsten Herausforderungen darin, die zu vermittelnden Inhalte sowie die Methoden und Sozialformen so zu adaptieren, dass sie für möglichst alle Teilnehmenden zugänglich sind.
Für das Handlungsfeld der inklusiven Kulturellen Bildung, insbesondere in den Bereichen der inklusiven Tanz- und Bewegungsvermittlung sowie der inklusiven kunstpädagogischen Praxis, liegen Leitfäden und Handlungsempfehlungen vor, die sich teilweise auf die pädagogisch-künstlerische Vermittlungsarbeit in konkreten Unterrichtssituationen beziehen (z.B. Verwendung einfacher Sprache, zielgruppenspezifische Kommunikation, Organisation von Peer-Systemen und Teams von Helfer*innen, spielerische Interventionen, strukturierte Improvisationen, offene Bewegungsaufgaben und Rituale). Zum anderen beziehen sich Handlungsempfehlungen auf Kontextbedingungen wie beispielsweise die Verbesserung der Zugänglichkeit zu Arbeitsräumen oder das Einrichten eines Ruhe-/Rückzugsraumes, der Aufbau eines Gruppenbodens, die Bereitstellung einer respektvollen, wertschätzenden, sicherheitsgebenden, vertrauensbildenden, selbstwertfördernden Lernkultur (z.B. Alessi/Zolbrod 2003; Becker/Dusing 2010; Benjamin 2002; Cheesman 2011; Cone/Cone 2011; DanceAbility International 2008; Elin/Boswell 2004; Kaufmann 2006; Les Têtes de l’Art and the project partners 2018; New York City Department of Education 2015; Tomasic/Verdi-Fletcher 2012). Das ursprünglich für die Architektur und später für das Lernen entwickelte Universal Design for learning (UDL) lässt sich besonders gut mit einer künstlerisch-kreativen Arbeitsweise in Verbindung bringen. Schlüsselelemente des UDL sind die Zugänglichkeit zu allen Räumen, eine inklusive Einstellung/Haltung, Verschiedenheit sozialer Interaktionsformen sowie Methoden und Techniken der Vermittlung (Lieberman/Houston-Wilson 2009; UN-BRK, Artikel 2). Lernstrategien zeichnen sich besonders aus 1. durch die Verwendung vielfältiger Darstellungsformen für die Informationsübermittlung, 2. durch die Bereitstellung vielfältiger Ausdrucks- und Aktionsmöglichkeiten für die Lernenden sowie 3. durch das Ermöglichen von Mitbestimmung der Lernenden in die Lernaktivitäten. Die besonderen Potenziale der künstlerischen Arbeitsweise liegen auf der Hand. Denn „die Künste bieten eine Vielzahl von Möglichkeiten, Informationen darzustellen, mehrere Möglichkeiten für SchülerInnen, ihr sich entwickelndes Verständnis zu konstruieren und zu demonstrieren, und mehrere Möglichkeiten, das Interesse der SchülerInnen zu wecken und sie für das Lernen zu begeistern.“ (Silverstein 2020:o. S.).
Mit dem vorliegenden Artikel möchten wir einen Beitrag zur Entwicklung von Handlungsleitlinien in konkreten Lehr-Lern-Situationen in der inklusiven Kulturellen Bildung leisten. Insbesondere möchten wir untersuchen, welche Handlungsleitlinien für die konkrete Vermittlung in inklusiven künstlerisch-kulturellen Lehr-Lernsituationen oder in inklusiven künstlerischen Produktionssituationen hilfreich sein könnten. Leitlinien sind als Orientierungs- und Entscheidungshilfen zu verstehen. In schulischen Kontexten beispielsweise tragen sie dazu bei, dass die Lehrkräfte sicher und richtig Entscheidungen treffen, um die Unterrichtsziele zu erreichen. Das ist insbesondere in komplexen Handlungssituationen, wie in stark heterogenen Gruppen, von großer Wichtigkeit. Leitlinien helfen damit also, die Unterrichtsqualität zu verbessern sowie die Handlungssicherheit von Lehrkräften zu stärken (Textor 2015). Gerade bei der Umsetzung von Inklusion spielt das Vertrauen in die eigene Handlungskompetenz und in die eigene Selbstwirksamkeit eine entscheidende Rolle (Gebhardt/Schwab/Nusser/Hessels 2015).
Die in diesem Beitrag weiter unten vorgestellten Leitlinien sind aus den wissenschaftlichen Untersuchungen hervorgegangen, die im Rahmen des von ERASMUS+ geförderten internationalen und interdisziplinären Projektes Creability - Creative methods for an inclusive cultural work in Europe durchgeführt worden sind (Quinten/Reuter/Almpanis 2020). Nach einem Überblick über die Forschungsaktivitäten in diesem Projekt werden die entwickelten Leitlinien vorgestellt.
Forschungsaktivitäten im Projekt Creability
Bei dem Projekt Creability handelt es sich um ein teil-partizipatives Forschungsprojekt, an dem Menschen mit und ohne Beeinträchtigung im Rahmen von Forschungsaktivitäten beteiligt waren. Ziel des Projektes war es, kreative Methoden und Tools aus den darstellenden Künsten zu entwickeln bzw. so zu bearbeiten, dass sie für alle Menschen möglichst zugänglich sind (Barrierefreiheit) und dazu beitragen, soziale Partizipation in inklusiven Gruppen zu fördern. Als Zielgruppe sind in dem Projekt Jugendliche und junge Erwachsene vorgesehen. Neben spezifischen Hinweisen für die Entwicklung von Tools sollten auch allgemeine Handlungsleitlinien für die erfolgreiche Durchführung dieser Tools in der konkreten Arbeits- bzw. Unterrichtssituation generiert werden. Dabei sollten die Ergebnisse vor allem auch für solche Multiplikator*innen anwendbar sein, die nicht grundständig in der Kulturellen Bildung arbeiten. Zur Erreichung der Ziele wurde die Methode der formativen Evaluation (Döring/Bortz 2016) eingesetzt, bei der Interventionsmaßnahmen oder Programme durch wiederholtes Ausprobieren in der Praxis und Herausarbeiten von Verbesserungsmöglichkeiten weiterentwickelt und optimiert werden. Entsprechend verlief das Projekt Creability in mehreren Forschungsphasen (s. Abb. 1).
Zu Beginn wurden in einem künstlerischen Forschungslabor an der Akademie der Kulturellen Bildung des Bundes und des Landes Nordrhein-Westfalen in Remscheid sowie unter Mithilfe des griechischen Kooperationspartners rund 70 Tools aus verschiedenen darstellenden Künsten (v.a. Musik, Tanz, Theater) gesammelt und verschriftlicht – jeweils in englischer und in deutscher Sprache. Der anschließende Forschungsprozess verlief in drei Phasen und kann als Mixed-Methods-Design verstanden werden:
- In der ersten Forschungsphase wurden im künstlerischen Forschungslabor in der griechischen Nationaloper in Athen die vorab gesammelten Tools in Gruppen mit Kunst- und Kulturschaffenden mit und ohne Beeinträchtigung praktisch erprobt und in direkt anschließenden Gruppendiskussionen spezifische Modifikationsbedarfe der jeweiligen Tools sowie allgemeine Leitlinien für die Anleitung herausgearbeitet (Practice-as-research-Ansatz). Ergänzend wurden halb-standardisierte externe Beobachtungen der jeweiligen Anleitungssituationen durchgeführt, deren Ergebnisse ebenfalls Eingang in die Tool- und Leitlinienentwicklung fanden. Die externen Beobachtungen, die schriftliche Dokumentation und Auswertung der in den Diskussionen erhobenen Daten, sowie die nach dem Forschungslabor vorgenommene Weiterentwicklung der Tools und Leitlinien wurden von zwei Forscherinnen der TU Dortmund durchgeführt. Eine ausführliche Beschreibung dieser ersten Forschungsphase findet sich in Quinten/Bilitza (in print).
- Insgesamt 41 überarbeitete Tools wurden dann in der zweiten Forschungsphase in vier Forschungsworkshops mit Kunst- und Kulturschaffenden mit und ohne Beeinträchtigung erneut praktisch erprobt und Modifikationsbedarfe in strukturierten Gruppendiskussionen herausgearbeitet. Ebenso wurden in den Gruppendiskussionen und externen Beobachtungen weitere Hinweise für die Leitlinienentwicklung generiert. Auch nach dieser zweiten Forschungsphase übernahmen die beiden Forscherinnen die Überarbeitung der Tool- und Leitlinienentwicklung und bereiteten diese für den letzten Evaluationsdurchgang vor.
- In der dritten Forschungsphase wurden die bis dahin optimierten Tools schließlich in Zielgruppenworkshops auf Barrierefreiheit und soziale Partizipation hin untersucht. Hierzu nahmen direkt nach einer Tool-Anleitung sowohl die Vermittelnden, als auch die Teilnehmenden sowie zwei externe Beobachtende mittels Kurzfragebögen subjektive Einschätzungen der Tools bzgl. Barrierefreiheit und bzgl. der verschiedenen Dimensionen der sozialen Partizipation (Zugehörigkeit, Peerakzeptanz und Mitbestimmung) in Form von Rating-Skalen vor. Bei Bedarf wurden die Teilnehmenden dabei unterstützt. Zusätzlich wurden nach jedem Workshoptag Fokusinterviews mit den vermittelnden Personen über Modifikationsbedarfe in den Tools sowie über wirksame allgemeine Leitlinien für die Tool-Anleitung durchgeführt und zwar auf der Basis ihres Ratings. Eine ausführliche Beschreibung dieser dritten Forschungsphase findet sich in Quinten (2020).
Der zweieinhalbjährige komplexe Forschungsprozess brachte schließlich 31 Tools hervor, die sich in stark heterogenen (inklusiven) Gruppen bewährt haben, sowie 28 allgemeine Leitlinien zur Tool-Anleitung für eine gelingende inklusive künstlerisch-kulturelle Praxis (Quinten et al. 2020). Da diese Forschungsergebnisse weitgehend aus den Diskussionen mit den Expert*innen sowie aus Befragungen einzelner Expert*innen stammen, wird diese Gruppe im folgenden Abschnitt näher beschrieben.
Beschreibung der Expert*innengruppe
Wie bereits weiter oben erwähnt, handelt es sich bei dem Projekt Creability um ein teil-partizipatives Projekt, an dem Menschen mit und ohne Beeinträchtigung im Forschungsprozess als Expert*innen beteiligt waren. Konkret bestand die Beteiligung entweder in der Anleitung der zu evaluierenden Tools oder in der praktischen Exploration der angeleiteten Tools. Sowohl in der Rolle als Vermittelnde, als auch in der Rolle der praktisch Explorierenden brachten die Expert*innen ihre Erfahrungen und ihr Wissen in den Forschungsprozess ein und waren somit maßgeblich und gleichberechtigt an der Tool- und Leitlinienentwicklung beteiligt. Insgesamt 13 Expert*innen übernahmen dabei - mehr oder weniger kontinuierlich - in den drei Forschungsphasen die Rolle der Vermittelnden; d.h. manchmal leiteten sie Tools für die Gruppe an und manchmal erprobten sie die Tools, die jemand anderes anleitete, in der Praxis.
a. Expert*innen in der Rolle der Vermittelnden
In der Gruppe der 13 vermittelnden Expert*innen befinden sich eine gehörlose Person und eine Person mit einer körperlichen Beeinträchtigung, die einen Rollstuhl nutzt. Fünf Vermittelnde sind weiblich, acht männlich, die Altersspanne in dieser Gruppe liegt zwischen 31 und 50 Jahren. Bei den Angaben der künstlerischen Disziplin (s. Abb. 2) der vermittelnden Expert*innen waren Mehrfachnennungen möglich. Ca. 32 % (n = 6) der vermittelnden Expert*innen kommen aus dem Bereich Tanz, ca. 26 % (n = 5) aus dem Bereich Theater/Schauspiel und ca. 21 % (n = 4) aus dem Bereich Musik. Weitere 11 % (n = 2) sind im Kreativen Schreiben und jeweils ungefähr 5 % (n = 1) sind im Bereich der Darstellenden Künste oder der Künstlerischen Gebärdensprache/Non-Verbale-Kommunikation tätig.
Bis auf eine Person verfügen alle über einschlägige Vermittlungserfahrungen, welche teilweise auch die Arbeit mit inklusiven Gruppen umfasst (s. Abb. 3). Die meisten vermittelnden Expert*innen (38 %, n = 5) verfügen über 16-20 Jahre Erfahrung in der Vermittlungsarbeit, 15 % (n = 2) weisen über 10-15 Jahre Vermittlungserfahrung auf. Insgesamt 39 % (n = 5) verfügen über weniger als 10 Jahre Vermittlungserfahrung, eine Person hat keine Vermittlungserfahrung. Alle vermittelnden Expert*innen haben einschlägige Erfahrungen in der künstlerischen Arbeit (s. Abb. 3).
b. Expert*innen in der Rolle der praktisch Explorierenden
Die in der ersten Forschungsphase am Künstlerischen Forschungslabor in Athen teilnehmenden Expert*innen (N = 22), welche die Tools in der Praxis erproben, kommen aus Griechenland (n = 12), Zypern (n = 2), Belgien (n = 1), Brasilien (n = 1) und Deutschland (n = 6). Sie sind überwiegend im Bereich Theater, Tanz/Performance und Musik/Musiktheater tätig. Fünf Teilnehmende sind taub, eine Person ist blind und eine Person hat eine körperliche Beeinträchtigung und nutzt einen Rollstuhl. Über die Hälfte der Teilnehmenden Expert*innen (n = 12) verfügt über 2-10 Jahre Vermittlungserfahrung in inklusiven Gruppen.
In der zweiten Forschungsphase, in der vier Forschungsworkshops – je zwei in Griechenland und zwei in Deutschland – stattfanden, waren insgesamt 34 Expert*innen aus dem Kunst- und Kulturbereich beteiligt, um die bisher entwickelten Tools und Leitlinien erneut praktisch auszuprobieren und weiterzuentwickeln. Rund 65 % (n = 22) von ihnen sind weiblich, 35 % (n = 12) sind männlich. Da am ersten künstlerischen Forschungslabor Menschen mit ausschließlich sensorischen und körperlich-motorischen Beeinträchtigungsformen vertreten waren, sollten in der zweiten Forschungsphase mehr Expert*innen mit weiteren anderen Beeinträchtigungsformen akquiriert werden, um mehr und spezifischere Informationen für die Weiterentwicklung der Tools und der Allgemeinen Handlungsleitlinien zu gewinnen. So nahmen schließlich unter anderem Personen mit dem Down-Syndrom, mit einer Lernbeeinträchtigung, einer Sprachbeeinträchtigung, eine blinde Person, eine Person aus dem Autismus-Spektrum sowie Personen mit einer körperlichen Beeinträchtigung teil, welche einen Rollstuhl oder Krücken nutzen. Die in der zweiten Forschungsphase teilnehmenden Expert*innen kamen überwiegend aus den künstlerischen Bereichen Tanz/Performance, Theater/Schauspiel und Musik.
Teilnehmer*innen der Zielgruppenworkshops
Die Leitlinienentwicklung für die inklusive Kulturarbeit erfordert es, dass Leitlinien in möglichst heterogenen Gruppen erprobt und ggf. optimiert werden. Hierzu dienten in der dritten Projektphase sieben Zielgruppenworkshops mit insgesamt 85 überwiegend Jugendlichen und jungen Erwachsenen. Die meisten Teilnehmenden sind im Alter zwischen 13 und 30 Jahren (43 %, n = 37), gefolgt vom Alter zwischen 31 bis 59 Jahre (20 %, n = 17) sowie 7 bis 12 Jahre (19 %, n = 16). Etwa 18 % (n = 15) geben keine Auskunft über ihr Alter. Rund 72 % (n = 61) von ihnen sind weiblich und rund 26 % (n = 22) männlich. 2 % (n = 2) geben keine Auskunft. Bei knapp 48 % (n = 41) der Teilnehmenden liegt eine Beeinträchtigung vor (s. Abb. 4). Darunter besitzen jeweils rund 15 % (n = 11) eine Lernbeeinträchtigung bzw. eine Mehrfachbeeinträchtigung, rund 14 % (n = 10) eine Sehbeeinträchtigung, rund 9 % (n = 10) eine Sprachbeeinträchtigung, 7 % (n = 7) eine Hörbeeinträchtigung, jeweils 5 % (n = 4) eine körperliche Beeinträchtigung bzw. Verhaltensauffälligkeiten und der Großteil mit rund 30 % (n = 22) eine andere Beeinträchtigungsform, z.B. das Down-Syndrom oder eine Ausprägung der Autismus-Spektrums-Störung.
Datenerhebung, Datenaufbereitung und -auswertung
An dieser Stelle folgt ein kurzer Überblick über die wichtigsten Forschungsaktivitäten zur Generierung der allgemeinen Leitlinien. Ausführlichere Beschreibungen über die forschungsmethodische Vorgehensweise für die Toolentwicklung finden sich in Quinten/Bilitza (in print) sowie in Quinten et al. (2020).
Die Entwicklung der allgemeinen Leitlinien basiert auf folgendem gesammelten Datenmaterial:
- Daten aus den Gruppendiskussionen der Forschungsphasen eins und zwei
- Daten aus den Fokusinterviews mit den Tool-Vermittler*innen aus Phase drei
- Daten aus sämtlichen Beobachtungsprotokollen der externen Beobachter*innen der Forschungsphasen eins bis drei
Datenerhebung: Die Datenerhebung begann in der ersten Forschungsphase. Hier wurden mithilfe halb-standardisierter externer Beobachtungen sowie mithilfe von Fokus-Gruppendiskussionen erste aussagekräftige qualitative Daten für die Entwicklung allgemeiner Leitlinien zur Vermittlung künstlerisch-kreativer Tools generiert. In den Gruppendiskussionen wurde unter anderem explizit danach gefragt, welche Vorgehensweisen der anleitenden Person im Sinne allgemeiner Handlungsleitlinien dazu beigetragen haben, dass das soeben erprobte Tool für möglichst alle Teilnehmenden zugänglich war. Die Ergebnisse dieser Gruppendiskussionen wurden von den beiden anwesenden Forscherinnen dokumentiert. Auch in den – die Toolerprobung begleitenden – externen Beobachtungen der beiden Forscherinnen war diese Fragestellung einer der zentralen Beobachtungsgegenstände. In der zweiten Forschungsphase wurden erneut nach jeder Toolerprobung Gruppendiskussionen durchgeführt und neue Hinweise für die Leitlinienentwicklung erarbeitet. Die Diskussionen wurden von den jeweiligen Vermittelnden moderiert. Diese führten auch die schriftliche Ergebnissicherung durch. Die dritte Phase der Datenerhebung startete im August 2019 mit den Zielgruppenworkshops. Die wichtigsten Informationen für die Entwicklung der Leitlinien wurden hier aus den durchgeführten fokussierten Interviews mit den Vermittelnden herausgearbeitet.
Datenaufbereitung: Die in der Datenerhebung gewonnenen Daten wurden vor der eigentlichen Analyse zuerst aufbereitet. Hierzu wurden alle Interviews transkribiert und sämtliche gewonnenen Daten anonymisiert, indem alle sensiblen Informationen in den Verschriftlichungen mithilfe eines individuellen Codes unkenntlich gemacht wurden (Kuckartz 2016). Danach wurden alle relevanten Daten aus den Interviews, den Gruppendiskussionen und den externen Beobachtungen in die Datensoftware MAXQDA eingepflegt (Kuckartz 2016).
Datenanalyse: Die eigentliche Datenauswertung erfolgte dann mittels der Qualitativen Inhaltsanalyse nach Mayring (2015). Die Ergebnisse aus der dritten Forschungsphase wurden zur besseren Visualisierung mittels der Mind-Mapping-Methode nach Hugl (1995) aufbereitet (s. Abb. 5).
Die erfassten allgemeine Leitlinien wurden anschließend aus dem gesamten Material herausgefiltert und in einer Excel-Tabelle gesammelt. Anhand der zusammengestellten Daten wurde induktiv ein Kategoriensystem zur Systematisierung der Creability-Handlungsleitlinien erstellt (Kuckartz 2016). Die Oberkategorien bilden dabei die Planung des Angebotes, die Anleitung der Tools, Hinweise zum Dolmetschereinsatz, das Anleiten zu zweit und die Auswahl der Tools.
Ergebnisdarstellung
Die im Projekt Creability durchgeführte systematische empirische Forschung hat uns wichtige Informationen darüber geliefert, nach welchen Kern-Prinzipien künstlerisch-kreative Tools durchgeführt werden sollten, damit sie funktionieren:
- Verwendung von verschiedenen Medien und Formaten im Tool (Multimodalität)
- Diagnostische Ermittlung von Bedarfen vor, während und nach der Vermittlungseinheit (Prozessuale Diagnostik)
- Kontinuierliche Anpassung der Tools, angepasst an die jeweiligen Voraussetzungen und situativen Gegebenheiten in der Gruppe (Prozessuale Modifikation)
- Einbeziehung der Teilnehmenden in den Vermittlungsprozess. Mitgestaltung/Mitbestimmung (Partizipation).
In einem letzten Durchgang wurden alle identifizierten Leitlinien im Hinblick auf einfache Sprache überarbeitet. Nach der Fertigstellung wurden sämtliche Leitlinien zwei langjährig erfahrenen Expert*innen inklusiver kulturell-künstlerischer Praxis zum Review vorgelegt. Aus dieser abschließenden Reviewarbeit ergaben sich lediglich noch einige Ergänzungen.
Im Folgenden werden die Leitlinien aus dem Handbuch Creability (Quinten et al. 2020) in vier Abschnitten vorgestellt. Die Ergänzungen der Reviewer*innen sind dabei durch einen Hinweis in Klammern kenntlich gemacht.
Allgemeine Leitlinien
- Ermittle so früh wie möglich die Bedarfe in der Gruppe. Das kann bereits vor Beginn des Workshops oder auch in der Vorstellungsrunde geschehen. Manchmal werden Bedarfe auch erst später im Workshopverlauf sichtbar bzw. in Gesprächsrunden thematisiert. Sei kontinuierlich wachsam hierfür und erarbeite dann gemeinsam mit der Gruppe bzw. den Betroffenen Lösungsmöglichkeiten.
- Beispiel für Fragen: „Was hilft Dir am meisten?“ - „Hast Du irgendwelche Wünsche oder Bedürfnisse, um gut am Workshop teilnehmen zu können?“
Wenn sich eine Gruppe schon sehr gut kennengelernt hat und das Vertrauen innerhalb der Gruppe und zu dir stabil ist, könntest du auch eine offene Gesprächsrunde einführen, in der alle frei über ihre Bedarfe sprechen könnten. Manchmal kann es sinnvoll sein, diese Gespräche auch zusätzlich mit Personen zu führen, die die Bedarfe der Teilnehmer und Teilnehmerinnen gut kennen. (Ergänzung der beiden vorangehenden Sätze durch Review)
- Nutze verschiedene Formate und Medien, um die Teilnehmer und Teilnehmerinnen zu informieren oder um etwas zu erklären.
- Beispiel: Du kannst auf die Wortsprache oder auf Gesten zurückgreifen, um Rückmeldung über die (richtige oder falsche) Ausführung einer Aufgabe zu geben. Du kannst auf ein Papier malen, um eine Aufgabe zu erklären.
- Beispiel: Für eine blinde Person, oder wenn die Augen während einer Aufgabe geschlossen sein sollen (Ergänzung erster Satzteil durch Review), können Informationen durch Berührungsreize (z.B. am Rücken) gegeben werden.
- Um den individuellen Voraussetzungen in der Gruppe gerecht zu werden, kannst Du die Aktivitäten und Ausdrucksformate in dem Tool entsprechend verändern. Wichtig ist dabei, dass dennoch das Toolziel umgesetzt werden kann.
- Beispiel: Bedingt durch eine Spastik in der Hand kann eine Person nicht klatschen. Als Alternative kannst Du für die gesamte Gruppe anbieten, dass der Klatschrhythmus auch mit Laut-Silben (hi-ha-ho) gesprochen werden kann.
- Wenn während der Tooldurchführung Probleme auftauchen, dann gib den betroffenen Personen die Möglichkeit, selbstbestimmt nach einer Lösung für das Problem zu forschen.
- Beispiel: In manchen Tools soll man sich berühren. Gib allen die Gelegenheit, miteinander zu besprechen, wie die Berührung sein sollte: welches Körperteil darf berührt werden, wie fest sollte die Berührung sein, welche alternativen Berührungsmöglichkeiten lassen sich finden, etc.
- Suche immer wieder das Feedback deiner Gruppe und sprich aktiv darüber, wie die Übungen oder Aufgabenstellungen für alle noch zugänglicher gemacht werden können. Das Einbeziehen der Teilnehmer und Teilnehmerinnen ist in unseren Augen ein wichtiger Moment des inklusiven und zugänglichen Arbeitens. (Ergänzung Nr. 5 komplett durch Review)
- Manchmal kann es sinnvoll sein, Tandems zu bilden, in denen eine Person eine andere unterstützt. Sie können einzelnen Personen ein Gefühl von Sicherheit geben. Sie können bei Bedarf schnell und unkompliziert unterstützen, während du dich weiter auf die gesamte Gruppe konzentrieren kannst. Für viele Teilnehmer und Teilnehmerinnen ergeben sich durch diese spontanen Tandems sehr wertvolle Erfahrungen
- Beispiel: Audiodeskription für eine blinde Person, um über das Geschehen in der Gruppe zu informieren
- Beispiel: Eine Person kann für den blinden Partner oder die blinde Partnerin nach Absprache Informationen durch Berührung vermitteln.
- Beispiel: Tandems aus Teilnehmern und Teilnehmerinnen mit und ohne Lernbehinderung können einander helfen Situationen zu vereinfachen. Teilnehmer und Teilnehmerinnen ohne Lernbehinderung können komplexe Sachverhalte für ihre Partner und Partnerinnen mit Lernbehinderung in vereinfachter Sprache wiederholen
- Richte immer wieder Gelegenheiten und genug Zeit ein, in der sich die Teilnehmer und die Teilnehmerinnen über eine gemeinsame Aufgabe austauschen können, zum Beispiel, um sich gegenseitig Feedback zu geben.
- Nutze vielfältige Möglichkeiten, um alle Personen in der Gruppe zur Mitarbeit zu motivieren und sie für die gemeinsamen Themen zu interessieren.
- Inklusive Gruppen bieten vielfältige Lerngelegenheiten. Lass allen genügend Zeit, individuelle Voraussetzungen bei anderen wahrzunehmen und miteinander konstruktive Umgangsformen zu entwickeln.
- Beispiel: Wie kann ein Fußgänger oder eine Fußgängerin einen elektrischen Rollstuhl fortbewegen? Wie können sich Teilnehmer und Teilnehmerinnen, die keine Gebärdensprache beherrschen, dennoch mit gehörlosen Personen verständigen?
- Reduziere Komplexität, wo immer es notwendig oder sinnvoll ist.
- Beispiel: durch Vermeidung von Lärm, durch Paarbildung statt Kleingruppen, durch kleinschrittiges Beschreiben einer Aufgabe, durch klare Raumwege statt freiem Bewegen im Raum, etc.
- Gib eher mehr als zu wenig Zeit für die Beschäftigung mit einer Aufgabe.
- Manchmal kann es sinnvoll sein, ein Tool öfter zu wiederholen, damit das Toolziel erreicht wird.
- Respektiere Grenzsetzungen oder Präferenzen einzelner Teilnehmer oder Teilnehmerinnen. Führe als Regel vorab ein, dass jede Person das Recht hat, sich zu äußern, wenn sie etwas nicht will.
- Manchmal ist es notwendig, Fachbegriffe zu erklären, v.a. wenn interdisziplinär gearbeitet wird.
- Beispiel: was bedeutet der Begriff „Dehnen“, oder „Bewegungsqualität“ oder auch „Barrierefreiheit“, etc.
Hinweise zum Dolmetschereinsatz
- Plane genug Zeit für das Gebärdendolmetschen ein.
- Sorge als Anleiter oder als Anleiterin dafür, dass in der Gruppe nicht zu schnell und nicht zu viel durcheinander gesprochen wird, damit der Gebärdendolmetscher oder die Gebärdendolmetscherin gut übersetzen kann.
- Bei Übungen, die mit geschlossenen Augen oder am Boden durchgeführt werden, sollten die Instruktionen vor Beginn der Anleitung gedolmetscht werden.
- Wenn Du als Anleiter oder als Anleiterin etwas demonstriert, dann achte darauf, dass es keine Überschneidung mit dem Gebärdendolmetschen gibt.
Hinweise für die Anleitung zu zweit
- Respektiere, dass andere anders arbeiten als du und wertschätze die Arbeit des anderen.
- Es muss genau abgesprochen werden, wer welchen Teil der Anleitung übernimmt und wie ihr die Übergänge gestaltet.
- Die erfahrenere Person sollte der anderen genug Raum zum Ausprobieren lassen und sie bei Bedarf und nach Absprache unterstützen. (Ergänzung Nr. 3 komplett durch Review)
- Erlaubt euch, auch Neues miteinander auszuprobieren. (Ergänzung Nr. 4 komplett durch Review)
- Plant genug Zeit vor die Vorbereitung der gemeinsamen Arbeit ein.
- Plant genug Zeit für Austausch und Feedback auch während der gemeinsamen Arbeit ein.
Hinweise zur Auswahl der Tools
- Schau dir immer selbst deine Gruppe an und überlege, welches Tool sich aus deiner Sicht am besten für die Gruppe in dem Moment der Anleitung eignet.
- Manche Tools eignen sich besser für eine bestimmte Zielgruppe als andere.
- Es kann passieren, dass ein Tool bei einer Gruppe sehr gut funktioniert, bei der nächsten, ähnlichen Gruppe aber überhaupt nicht. Verzweifle darüber nicht, sondern bleibe flexibel, um auch mal ein Tool »über Bord« zu werfen und schnell ein anderes auszuprobieren.
- Die Tools enthalten eine Vielzahl von Hinweisen und Tipps. Am wichtigsten ist jedoch deine aufmerksame Wahrnehmung für alle Teilnehmer und Teilnehmerinnen, um sie bestmöglich zu unterstützen, zu schützen, aber auch, um sie herauszufordern.
Diskussion
In den folgenden Ausführungen sollen die in diesem Beitrag vorgestellten Creability-Handlungsleitlinien unter einer didaktisch-methodischen, einer theoretischen und einer forschungsmethodischen Perspektive diskutiert werden.
Didaktisch-methodische Diskussion
Viele der bereits in der einschlägigen Fachliteratur auffindbaren Handlungsempfehlungen für die inklusive künstlerisch-kulturelle Arbeit (siehe Einleitung) werden durch die Untersuchungen im Projekt Creability bestätigt. Besonders die im UDL beschriebenen Lernstrategien haben sich auch in der Creability-Forschung als handlungsleitende Prinzipien (Multimodalität, prozessuale Diagnostik und Modifikation, Partizipation) gezeigt und unterstützen die große Bedeutung künstlerischer Arbeitsweise in inklusiven Lehr-Lernsituationen. Die 28 Creability-Leitlinien speisen sich aus unterschiedlichen künstlerischen Disziplinen. Damit bieten sie eine Vielfalt an alternativen Mitteln zur Übermittlung von Informationen ebenso wie sie den Lehrkräften oder anderen Vermittelnden eine Vielzahl von Möglichkeiten an die Hand geben, um ihre Inhalte über unterschiedliche visuelle, auditive und kinästhetisch Lernmodalitäten darzustellen (vgl. Silverstein 2020). Die Creability-Leitlinien sind mit den von Silverstein beschriebenen Beispielen für die Umsetzung der Lernstrategien im UDL kompatibel: Im Schauspiel beispielsweise verwenden Lehrkräfte neben der Sprache auch körperlichen Ausdruck, um Inhalte darzustellen. Oder in der Musik dienen hierzu Rhythmus, Klangmuster und Melodien. Im Tanz können die Inhalte durch körperliche Bewegung dargestellt werden, wobei dann auf verschiedenen Formen von Energie in Raum und Zeit zurückgegriffen wird (Silverstein 2020). Mit den beiden Creability-Leitlinienkategorien Informationen für die Anleitung zu zweit sowie Hinweise zum Dolmetschereinsatz konnten weitere für die Vermittlung relevante Leitlinien generiert werden. Ein weiterer Mehrgewinn aus dem Creability-Projekt liegt darin, dass viele der Creability-Leitlinien situationsspezifische Informationen bereitstellen, welche auch anhand von Beispielen sehr konkret veranschaulicht werden. Schließlich sind alle Leitlinien in einfacher Sprache formuliert, um der Inklusionsidee Rechnung zu tragen.
Theoretische Diskussion
Unter einer theoretischen Perspektive werden die Creability-Handlungsleitlinien durch Ergebnisse aus der Unterrichtsforschung, insbesondere zur Unterrichtsqualität, gestützt. So setzt Unterrichtsqualität im inklusiven Unterricht voraus, dass „solche Lehr-Lernsituationen gestaltet werden, an denen alle teilhaben und zu denen alle beitragen können.“ (Heimlich 2018:18) – eine Erkenntnis, die in dem vierten Kern-Prinzip „Einbeziehung der Teilnehmenden in den Vermittlungsprozess, Mitgestaltung/Mitbestimmung (Partizipation)“ enthalten ist und sich in verschiedenen Allgemeinen Creability-Leitlinien wiederfindet (beispielsweise Nr. 4, 5, 7, 9 oder 13). Nach Heimlich (2018) wird die Unterrichtsqualität von vielen Einzelfaktoren beeinflusst (siehe Abbildung 6).
Eine inklusive Schule kann laut Heimlich (2018) nur durch Veränderungen dieser Einzelfaktoren entstehen, „[…] die ausgehend von Kindern und Jugendlichen mit individuellen Bedürfnissen und der Gestaltung eines inklusiven Unterrichts die Intensivierung der Teamarbeit innerhalb der Schule bis hin zur gemeinsamen Gestaltung von Schulleben und Schulkonzept und darüber hinaus die Erweiterung der Zusammenarbeit mit externen Unterstützungssystemen beinhalten“ (20). Alle Creability- Leitlinien sind mit dem Fokus auf Jugendliche und junge Erwachsene mit individuellen Bedürfnissen entwickelt worden. Die Allgemeinen Leitlinien sowie die Hinweise zur Auswahl des Tools können im Modell von Heimlich (2018) den Einzelfaktoren „Inklusives Schulkonzept und Schulleben“, sowie „Inklusive Lehr- und Lernsituationen“ zugeordnet werden. Die Hinweise zum Dolmetschereinsatz können in dem Einzelfaktor „Externer Unterstützungssysteme“, die Hinweise für die Anleitung zu zweit bei dem Einzelfaktor „Multiprofessionelles Team“ angesiedelt werden (Heimlich 2018).
Aus der Inklusionsforschung ist hinlänglich bekannt, dass es vor allem einer inklusiven Grundhaltung aller Beteiligten bedarf, damit Kooperation und Lernen in heterogenen Gruppen gelingen kann. Erforderlich ist eine positive Einstellung zu Vielfalt und Unterschieden und die Bereitschaft, entsprechend zu handeln. Die Akzeptanz von Unterschieden bedeutet vor allem, „in persönlichen Beziehungen und in konkreten Interaktionssituationen eine nicht an Bedingungen geknüpfte Akzeptanz des Gegenübers zu vermitteln … Grundlage eines Inklusion unterstützenden Unterrichts ist somit, in der alltäglichen Interaktion zu verdeutlichen, dass alle Kinder bzw. Jugendlichen und Erwachsenen der Gruppe als inklusive Gemeinschaft gesehen werden, in der Unterschiede akzeptiert werden, damit die unterschiedlichen Gruppenmitglieder sich gegenseitig anregen und voneinander lernen können (…).“ (Textor 2015:43). In den allgemeinen Creability-Leitlinien findet diese Grundhaltung ihren Niederschlag, beispielsweise in den Leitlinien Nr. 3, 9 und 13. Auch der Index für Inklusion (vgl. Booth/Ainscow 2019; siehe Abbildung 7) betont die Notwendigkeit einer inklusiven Grundhaltung, in der Respekt vor und Wertschätzung von Vielfalt eine zentrale Rolle spielen. So geht es in der Dimension A „Inklusive Kulturen schaffen“ um die in der Schule herrschenden Werte und Überzeugungen sowie um die Notwendigkeit der Veränderung dieser Kulturen.
Ebenfalls lassen sich deutliche Übereinstimmungen zwischen den Creability-Leitlinien und dem Index für Inklusion in dessen „Dimension C: Inklusive Praktiken entwickeln“ auffinden. So geht es in der Index-Dimension „C2: Das Lernen orchestrieren“ beispielsweise darum, dass Lernaktivitäten immer „mit Blick auf die Vielfalt aller Schüler*innen geplant“ werden (vgl. Creability-Leitlinien Nr. 1, 3, 5), dass Schüler*innen Verantwortung übernehmen (vgl. z.B. Creability-Leitlinien Nr. 4, 6), dass die Schüler*innen ihr eigenes Lernen aktiv mit gestalten (vgl. z.B. Creability-Leitlinien Nr. 4, 13), dass sie gegenseitig miteinander und voneinander lernen (vgl. z.B. Creability-Leitlinien Nr. 6, 7), und schließlich auch ein Verständnis für Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen Menschen entwickeln (vgl. z.B. Creability-Leitlinien Nr. 1) (Booth/Ainscow 2019:19). Die Creability-Hinweise zum Dolmetschereinsatz sowie die Hinweise für die Anleitung zu zweit lassen sich den Index-Dimensionen „B2: Unterstützung und Vielfalt organisieren“ sowie „C2: Das Lernen orchestrieren“ zuordnen. Die Hinweise zur Auswahl der Tools können ebenfalls in dem Bereich „C2: Das Lernen orchestrieren“ verordnet werden.
Forschungsmethodische Diskussion
Die Ergebnisse des Creability-Projektes basieren auf einem komplexen, zweieinhalbjährigen Forschungsprozess, in dem systematisch eine Vielzahl von Daten aus verschiedensten Perspektiven erhoben und inhaltsanalytisch ausgewertet wurden. Da es um die Weiterentwicklung bzw. Optimierung von praktischen Maßnahmen und Interventionen geht, wurde die Methode der formativen Evaluation gewählt, die sich in den Sozialwissenschaften hierfür als geeignetes Forschungsinstrument erwiesen hat (Döring/Bortz 2016). Wie weiter oben beschrieben, wurden die empirischen Untersuchungen zusammen mit Expert*innen mit verschiedensten Beeinträchtigungsformen durchgeführt. Allerdings waren dabei insgesamt vergleichsweise wenige Personen mit einer intellektuellen Beeinträchtigung, mit einer Lern- oder Sprachbeeinträchtig oder mit einer Mehrfachbeeinträchtigung involviert. Damit ist auch das Expert*innenwissen, welches in den Entwicklungsprozess eingeflossen ist, begrenzt. Notwendig ist aus diesem Grunde die kontinuierliche Anpassung und Weiterentwicklung der aktuell formulierten Creability- Handlungsempfehlungen insbesondere unter stärkerer Einbeziehung von Expert*innen mit intellektuellen, Sprach- und Lernbeeinträchtigung. Darüber hinaus ist kritisch anzumerken, dass der Evaluationsprozess mit der Publikation der Leitlinien im Praxishandbuch Creability ein vorläufiges Ende genommen hat. Offen bleibt, ob die formulierten Handlungsleitlinien tatsächlich in dem erhofften Maße für Anwender*innen hilfreiche Informationen und Orientierung zur Planung und Durchführung kreativ-künstlerischer Angebote bietet. Dies gilt besonders für Multiplikator*innen, die nicht grundständig im Feld der inklusiven künstlerisch-kulturellen Bildung tätig sind – wie beispielsweise für Menschen, die disziplinübergreifend in den Künsten arbeiten möchten oder für Lehrkräfte, die fachfremd unterrichten. Inwieweit die Creability-Leitlinien tatsächlich die erhoffte Orientierungs- und Entscheidungshilfen gewähren, bleibt einer weiteren Untersuchung vorbehalten.
Fazit
Im Creability-Projekt konnten 28 allgemeinen Leitlinien für die Vermittlungsarbeit in der inklusiven Kulturellen Bildung herausgearbeitet werden. Die Leitlinienentwicklung basiert auf einer systematischen empirischen Untersuchung, die als teil-partizipatives Forschungsformat angelegt ist und auch künstlerische Praxisforschung berücksichtigt. An der Entwicklung beteiligt sind multidisziplinäre Expert*innengruppen aus verschiedenen künstlerischen Disziplinen sowie zahlreiche Personen unterschiedlichen Alters mit und ohne Beeinträchtigung. Die Creability-Leitlinien bestätigen weitgehend die einschlägige didaktisch-methodische Fachliteratur und sind weitgehend mit dem UDL kompatibel. Sie erweitern den vorliegenden didaktisch-methodischen Kanon um weitere praxisrelevante Hinweise zum Dolmetschereinsatz und zum Co-Teaching (Hinweise für die Anleitung zu zweit). Theoretisch lassen sich die entwickelten Creability-Leitlinien sowohl an die inklusive Unterrichtsforschung, als auch an den Index für Inklusion anbinden. Im Sinne der formativen Evaluation sollten die im Creability-Projekt entwickelten Leitlinien nach einer Phase der praktischen Erprobung mit weiteren Zielgruppen und mit verschiedensten Multiplikator*innen einer erneuten Evaluation unterzogen und sowohl hinsichtlich der Inhalte, als auch hinsichtlich der Versprachlichung und formalen Aufbereitung weiterentwickelt werden.