Ästhetisches Hören – Theoretische und didaktische Dimensionen auditiver Wahrnehmung in der Ästhetischen Bildung
Ästhetische Bildung als Entfaltung der Wahrnehmung
In seinen Briefen zur ästhetischen Erziehung weist Schiller den Künsten die Aufgabe zu, zwischen dem Bereich der Vernunft und dem der Sinnlichkeit zu vermitteln und einen Ausgleich herzustellen. Weder die Vernunft noch das Gefühl allein reiche aus, um den Menschen zur Vervollkommnung seiner selbst zu führen, sondern im idealen Fall des ästhetisch gebildeten Menschen befinden sich beide Kräfte – Triebe, wie Schiller es nennt – im Gleichgewicht. Dieses Gleichgewicht drückt sich im gemeinsamen Element aller Künste aus, dem Spiel. Schillers Konzeption ästhetischer Erziehung enthält Gedanken, die bis heute Gültigkeit besitzen und in vielfacher Hinsicht zur Grundlage aktueller Ansätze ästhetischer Erziehung und Bildung geworden sind. Die Aufwertung des sinnlichen Fühlens gegenüber den kognitiven Verstandeskräften hat sich als Bildungsidee der Ganzheitlichkeit niedergeschlagen. Dass nicht nur der Kopf, sondern auch Herz und Hand lernen und Bildung ein Prozess ist, in dem diese drei Instanzen unlösbar miteinander verbunden sind, ist eine Gewissheit, die heute wohl kein Bildungstheoretiker oder Didaktiker in Abrede stellen würde.
Weniger entschieden ist hingegen die Frage, welche Rolle die Künste und das ästhetische Lernen im engeren, auf die Künste bezogenen Sinne im Bildungsprozess einnehmen. Hier stehen sich die Ansprüche der künstlerischen Einzeldisziplinen mit ihren Didaktiken und die eines gemeinsamen Bildungsbereiches konkurrierend gegenüber. Während von bildungstheoretischer Seite der Schiller’sche Gedanke einer gemeinsamen Ebene der Künste weitergeführt und ausdifferenziert wurde – ebenso wie auch in Bezug auf die anderen schulischen Fächer immer wieder die Notwendigkeit fächerverbindenden Unterrichtens hervorgehoben wird – verlangen die Anforderungsbereiche der einzelnen Disziplinen spezialisierte Formen des Lernens. Singen, Instrumentalspiel, musikalisches Hören etc. lernt sich nicht nebenbei, sondern bedarf einer gezielten Anregung und Förderung – ebenso wie der verstehende Umgang mit Literatur angeleitet und geübt werden muss.
Andererseits gibt gerade die Möglichkeit, über die einzelne Kunstdisziplin hinauszugehen und eine den Künsten gemeinsame Ebene zu thematisieren, den Blick auf die Frage nach ihrem Sinn frei. Eine solche gemeinsame Ebene bildet die Thematisierung der sinnlichen Wahrnehmung. Eine didaktische Reflexion der Hörwahrnehmung ist für den Umgang mit Musik ebenso von Bedeutung wie für den mit Literatur. Die rezeptive und produktive Auseinandersetzung mit den Künsten bedarf als Voraussetzung eines entfalteten gebildeten Wahrnehmungsvermögens – zugleich wird die Wahrnehmungsfähigkeit in der Auseinandersetzung mit den Künsten entwickelt und differenziert.
In wahrnehmungspsychologischen Lehrbüchern (z.B. Guski 1996, Goldstein 2002) wird stets auf die Funktion der Sinnesorgane hingewiesen. Dabei wird unterschieden zwischen Sinnesleistungen, die alle Sinne erbringen, und Leistungen, die spezifisch für ein bestimmtes Sinnesorgan sind. Zu den allgemeinen Leistungen unserer Sinnesorgane gehört die Lieferung von Informationen über die räumliche Umgebung, über Gegenstände, Substanzen, Entfernungen und Richtungen etc. Diese Informationen sind wesentlich für unsere Orientierung im Raum und unsere Bewegungssteuerung. Wir haben diesen Aspekt der Sinnesleistung mit den Tieren gemeinsam, denn auch Tiere bewegen und orientieren sich im Raum. Über diese basale Ebene der Wahrnehmung hinaus dient uns Menschen die Wahrnehmung dazu, eine innere Repräsentation der Umgebung aufzubauen. Indem wir uns Eindrücke über die Erlebniszeit hinaus vergegenwärtigen können, haben wir die Möglichkeit, uns auch bei Abwesenheit (auch ohne konkreten Sinneseindruck) auf vormalige Sinneseindrücke zu beziehen. Die Fähigkeit, Sinneseindrücke in Erinnerung zu rufen, sie als Repräsentation im Gedächtnis aufzubewahren, bildet die Voraussetzung für unsere Fähigkeit der Gegenstandsidentifikation; gegenständlichen Wahrnehmung und Gedächtnisfunktion hängen somit direkt miteinander zusammen. Mit Ernst Cassirer lässt sich das Erinnern, die „Rekognition“, als produktive Leistung auffassen, die „in dem einfachen sozusagen punktuellen ‚Hier’ und ‚Jetzt’ der Erlebnisgegenwart ein anderes, ein ‚Nicht-Hier’ und ‚Nicht-Jetzt’“ (Cassirer 1994:133) wiederfindet. Der erinnerte Gegenstand ist von dem Sinneseindruck selbst unterschieden; er wird im Gedächtnis auf eigene Art repräsentiert:
„Wir können etwa sagen, dass es ‚dieselbe’ Melodie sei, der wir uns das eine Mal in unmittelbarer Wahrnehmung, das andere Mal in bloßer Erinnerung zuwenden, aber dies heißt nicht, daß beide Erlebnisse, das Wahrnehmungs- und Erinnerungserlebnis in irgendeinem substantiellen Bestandsstück übereinkommen, sondern lediglich, dass sie einander zugeordnet und funktionell aufeinander bezogen sind.“ (Ebd.:231)
Um die spezifischen Funktionen und Leistungen des Hörsinns zu vergegenwärtigen, ist es sinnvoll, zwischen hyletischen (Schall), physiologischen (Reizmuster) und psychologischen (Wahrnehmung) Gegebenheiten im Sinne dreier ineinandergreifender Dimensionen zu unterscheiden. Schall als hyletische Gegebenheit entsteht aus Bewegungsprozessen:
„Normalerweise befinden sich die Materieteilchen ständig in einer Schwingbewegung. Wenn diese Schwingbewegung mit hinreichender Stärke durch eine mechanische oder aerodynamische Kraft angeregt wird (z.B. durch Klatschen der Hände, Sprechen oder Pfeifen), entsteht eine Kette von kleinen Turbulenzen, die eine kugelförmige Ausbreitung der beim Anregungsereignis entstandenen Schallenergie zur Folge hat.“ (Guski 1996:66)
Um feste Körper hören zu können, müssen diese in Bewegung versetzt werden, zum Beispiel durch Klopfen und Reiben. Auf hyletischer Seite lässt sich daher von einem (Bewegungs-)Ereignis sprechen.
Das Ohr nimmt diese Bewegungen in physiologischer Weise als Reizmuster wahr. Für die auditive Verarbeitung sind die physikalischen Merkmale Schalldruck, Frequenz und Reizdauer wichtig. Allerdings lässt sich die Unterscheidungsfähigkeit des Gehörs nicht allein anhand dieser Merkmale bestimmen, weil im Wahrnehmungsvorgang die physikalischen Merkmale des Schalls in gegenseitige Abhängigkeit treten: Da die Empfindlichkeit des Gehörs sich in den verschiedenen Frequenzbereichen unterscheidet, verändert sich die Hörschwelle, d.h. der Schalldruckbereich, in dem ein akustisches Ereignis gerade noch wahrgenommen werden kann, mit dem Frequenzbereich. Die empfundene Lautstärke wird deshalb mit einer anderen Maßeinheit (Sone) angegeben als der Schalldruck (Dezibel). Daran zeigt sich, dass die physikalischen Gegebenheiten nicht in eins zu setzen sind mit den Reizmustern, die das Hörorgan im ersten Schritt aufnimmt. Bereits auf der physiologischen Ebene wirkt sich die Spezifik des reizverarbeitenden Organs aus.
Auch die psychologische Weiterverarbeitung des Reizmusters kann als ein Transformationsprozess betrachtet werden, der die physikalische Struktur des Ausgangsereignisses – noch weiter – hinter sich lässt: aus dem Fluidum bewegter Materialteilchen wird der Eindruck identifizierbarer Hörobjekte. Von Hörobjekt zu sprechen ist dadurch gerechtfertigt, als es beim Hören „primär nicht um das Beobachten einer Tonhöhe oder der Konstanz von Klangfarbe, sondern um die Feststellung, welches Ereignis in der Umwelt dadurch angezeigt wird“ geht (Goldstein 2002:444):
„Es sind dies bedeutungshaltige Ereignisse im Alltag, die durch von ihnen erzeugte Schallsignale gekennzeichnet sind. Beispiele dafür sind das Umblättern einer Zeitung, das Schließen einer Tür, eine Person, die eine Treppe herabsteigt, siedendes Wasser, zerbrechendes Glas und das Feilen eines Metallstücks.“ (Ebd.)
Wie gelingt es der Wahrnehmung, aus dem fluiden Bewegungsereignis des Schalls zu einem identifizierbaren Hörobjekt bzw. zum Erleben sinnhafter Vorgänge zu gelangen? Bei der Identifikation von Umweltgeräuschen und Sprache spielt die zeitliche Struktur eine besondere Rolle: „Rede, Musik und zahlreiche Klanggestalten der natürlichen und artefaktischen Umwelt des Menschen bestehen aus Folgen von zahlreichen auditiven Elementen oder Teilen, die in ihren spezifischen sukzessiven Ordnungen Gestalten bilden.“ (Schmicking 2003:96) Voraussetzung für die Identifizierung dieser Gestalten ist ein auditives zeitliches Auflösungsvermögen, welches die Zusammensetzung der Elemente, aus denen die Zeitgestalten bestehen, analysieren kann. Unsere auditive Unterscheidungsfähigkeit erweist sich dabei, wie an Experimenten nachgewiesen wurde, als äußerst differenziert. Um einen Klang wahrzunehmen, reicht eine Darbietungsdauer von 1 msec aus. Die Unterscheidung sukzessiver auditiver Informationen erfolgt, wie Experimente zeigen, in zwei Typen. Auf der einen Seite als holistische Mustererkennung, bei der die Zeitstruktur einer Klangfolge als Ganzes aufgefasst und verglichen wird. Das holistische Muster tritt den Versuchspersonen dabei als „als passiv erzeugte Verbindung“ entgegen. (Ebd.:98) Bei dem zweiten Typ des Hörens fasst der Hörende die atomaren Klänge explizit auf. „Hierbei ist der Hörer in der Lage, in kategorialen Akten die atomaren Komponenten zu identifizieren und in der korrekten Reihenfolge zu benennen.“ (Ebd.)
Der zweite Typ des Hörens braucht mehr Zeit als die holistische Mustererkennung, bei der keine Identifizierung der einzelnen Komponenten in ihrer Reihenfolge erfolgt, sondern ‚emergente Gestalteigenschaften’ wahrgenommen werden. Das Zusammenziehen einzelner Informationspartikel zu einem auditiven Muster ermöglicht Unterscheidungsleistungen in einem Bereich, der weit unterhalb der zeitlichen Leistung zur direkten Information liegt. „Zeitliche Ordnung wird hierbei global, implizit, eher als Timbre- und Rhythmusmoment wahrgenommen, jenseits der Schwelle des perzeptiv und prädikativ Klassifizierbaren bzw. Artikulierbaren.“ (Ebd.:98)
Die auditive Wahrnehmung hat somit passive (implizite) und rezeptive (explizite) Anteile, die einander durchdringen. Neben der Möglichkeit, die Unterscheidungsfähigkeit für Einzelreize zu trainieren, bildet die Möglichkeit, einen attentionalen Fokus (ebd.:101) durch das auditive Gegenwartsfeld schweifen zu lassen, einen zentralen Aspekt aktiver Rezeption. Die willkürliche Fokussierung eines Elements gliedert das Wahrnehmungsfeld in Vorder- und Hintergrund, in Zentrum und Peripherie. Hören wird damit zu einem aktiven Gestaltungsvorgang, der durch physische und physiologische Vorgaben nur bis zu einem gewissen Grad bestimmt wird.
Ästhetisches Hören
Die bisherigen Ausführungen haben gezeigt, dass bereits bei der alltäglichen Hörwahrnehmung automatisierte Prozesse mit intentionalem Aufmerken abwechseln und beides ineinandergreift. In Bezug auf die Perspektive ästhetischer Bildung als Ausrüstung in der Aisthesis (von Hentig 1969:358) ist nun zu fragen, worin das Spezifische der ästhetischen Wahrnehmung liegt und in welcher Hinsicht das alltägliche Wahrnehmungsvermögen einer Ausweitung und Bildung bedarf.
Martin Seel stellt die ästhetische Wahrnehmung als „Wachheit für eine disfunktionale Präsenz der Phänomene“ einer „feststellenden“ Wahrnehmung gegenüber. (Seel 2003:57) Der ästhetischen Wahrnehmung geht es um ein „Vernehmen der Objekte“ anstelle einer „instrumentellen Aneignung“. (Ebd.) Im Unterschied zur alltäglichen Wahrnehmung ist die ästhetische von der Orientierungsfunktion, die oben als Grundfunktion von Wahrnehmung genannte wurde, freigestellt. Für den ästhetisch Wahrnehmenden sind die Informationen, die mithilfe der Sinnesorgane über die Umwelt zum Zwecke einer sinnvollen Ausrichtung des eigenen Handelns aufgenommen werden, weniger wichtig als eine Hingabe an die Erscheinung und Präsenz der Umwelt.
Seel spricht daher auch von einem „Zustand der ästhetischen Wahrnehmung“ (Seel 2003:65), in dem der Wahrnehmende in der Gegenwart des Erscheinenden „verweilt“ und in den er aktiv eintreten oder aber passiv gezogen werden kann.
Die Zeitstruktur ästhetischer Wahrnehmung ist durch Hingabe an die Gegenwart gekennzeichnet, die ihre Gegenstände in einem „Zugleichbestehen“, in der „Simultaneität ihrer bleibenden oder vergehenden Erscheinungen“ aufsucht. (Ebd.:56) Karl Heinz Bohrer hat das Element der spezifischen Zeitlichkeit ästhetischer Erfahrung mit dem Begriff der Plötzlichkeit herausgearbeitet. (Bohrer 1981) Anhand der Zeitstruktur ästhetischer Wahrnehmung lässt sich diese am deutlichsten von pragmatischen Wahrnehmungen des Alltags unterscheiden. Denn in Letztgenannter geht es um die Feststellung des Wahrgenommenen, um gegenständliches Wahrnehmen. Beim Überqueren der Straße vermittelt mir das Ohr die Information, dass sich von der linken Seite ein Auto nähert. Dies ist eine pragmatische Wahrnehmung, die weniger auf ein besonderes Aufmerken als auf routiniertes Verhalten zurückgeht. Ohne dem Höreindruck nachzulauschen, ist mir die Identifikation Auto genug. Ich interessiere mich in der pragmatischen Einstellung des Alltags nicht für die Qualitäten der Straßengeräusche, sondern nur für die Informationen, die ich brauche, um ohne Schaden an mein Ziel zu gelangen.
Ästhetische Wahrnehmung als ein Zustand des Verweilens bei der Erscheinung ist dagegen ein utopischer Sehnsuchtsort, der von Michel Serres bei der philosophischen Reflexion des Hörsinns aufgerufen wird. Während die Sprache die Sinne betäubt, uns „taub gegenüber den Dingen macht“ (Serres 1993:116), ermöglicht die Stille, dass sich „das Gegeben gnädig neben mir niederläßt“ (ebd.:117):
„Das ist die Heilung, die ich mir von Gott Äskulap erhoffe, an diesem Wintermorgen: das Schweigen der Organe, gewiß, im Gleichklang mit der äußeren Stille; aber vor allem wünsche ich, daß die Sprache in mir verstummt. Meine erste und ohne Zweifel harte Entziehungskur. Wer eine Ästhetik schafft, der betet darum, daß seine Anästhesien schwinden mögen.“ (Ebd.:116)
Das Ich in Serres „Philosophie der Gemenge und Gemische“ zieht sich in die Einsamkeit eines verlassenen Amphitheaters zurück, in die Stille des „großen Ohres“ – wie der Ort metaphorisch umschrieben wird. Erst die Stille, von Serres vor allem aufgefasst als Abwesenheit von Sprache, ermöglicht es, auf die Welt zu lauschen, d.h. auf „einen anderen Ton als den der Worte, einen anderen Laut als den der Stimme“ (ebd.:131) und das Ich damit aus der Erstarrung in Gewohnheiten zu befreien:
„Sensibel, rezeptiv, feinfühlig erkennt der Sinnesfühler das bereits Gesagte, Wiederholte, und zieht sich rasch zurück, wartet, aufmerksam, aus dem Lot oder nicht im Gleichgewicht gegenüber der Sprachmasse, wie eine empfindliche Antenne wartet er auf das Unerwartete, erkennt er das Unkenntliche, sensibel in die Stille hinein.“ (Ebd.:122)
Möglichkeiten einer Ästhetischen Hörerziehung
Ebenso wie Kinder, wenn sie in die Schule kommen, bereits sprechen gelernt haben, können sie singen. Die Fähigkeit des Spracherwerbs und des Erwerbs elementarer musikalischer Fähigkeiten geht dem Unterricht in den Schulfächern Musik und Deutsch voraus. In der Schule rücken diese aus der spontanen mündlichen Kommunikation entstandenen Fähigkeiten als Kulturtechniken des Lesens und Schreibens in den Blick. Zwar hat die Schriftlichkeit im Musikunterricht einen deutlich geringeren Stellenwert als im Deutschunterricht – es wird auch gelegentlich in Zweifel gezogen, ob es überhaupt sinnvoll ist, auf die Schriftlichkeit von Musik einzugehen – , doch selbst dort, wo auf Notenlehre verzichtet wird, bleibt die formale Unterscheidung musikalischer Elemente (Tempo; Dynamik; Form; Motive etc.) von Bedeutung.
Standardisierte Gliederungen, wie sie für den Schriftspracherwerb und die Aneignung musikalischer Begriffe Voraussetzung sind, legen Wahrnehmungsbahnen an. Die Aneignung von Kriterien für die Gliederung von Sprachlauten und Musik verlangt ein analytisches Hinhören, das die gewohnten mündlich erworbenen Muster umbaut. Erst im Umgang mit Graphemen begreifen Kinder Phoneme, d.h. im Schriftspracherwerb geht es nicht nur um das Erlernen schriftlicher Zeichen für Laute, die schon vorher unterschieden wurden, sondern auch um auditives Lernen. (Weingarten 2001) Auch in sprachhistorischen Untersuchungen zu den Entwicklungszusammenhängen zwischen gesprochener und geschriebener Sprache wird hervorgehoben, dass das Schriftkonzept von Sprache und Musik auf die hörende Rezeption zurückwirkt und die Sprache insgesamt „den Erfordernissen des anderen Mediums entsprechend umgestaltet“ wird. (Günther 2003:159)
Hörerziehung im Kontext des Schriftspracherwerbs und Musiklernens, so lässt sich zusammenfassend konstatieren, zielt auf eine Neuorientierung in der holistischen Reizverarbeitung. Wiederholendes Üben hat dabei die Funktion, dass sich neue Muster etablieren und sicher beherrscht und automatisiert werden.
Eine diese Alphabetisierung und Übung in der feststellenden Wahrnehmung um die Dimension ästhetischen Wahrnehmens erweiterte Hördidaktik sollte die Leiblichkeit des Sprechens und Hörens in den Blick nehmen und dem Hier und Jetzt sprachlicher und musikalischer Gestalten und Situationen nachspüren. Mit diesem Ziel schlägt Katja Bergmann ein Curriculum der Hörerziehung im Deutschunterricht vor, das auch auf Ansätze der Musik- und Bewegungserziehung zurückgreift und damit das Hören als gemeinsame Ebene beider Fächer entfaltet. (Bergmann 2000)
Darüber hinaus können auch Artefakte selbst eine Einübung in den Zustand ästhetischen Hörens befördern. Gerade die Gattung Hör-Spiel, in der wie die Bezeichnung schon sagt, mit dem Hören gespielt wird, eignet sich in besonderer Weise, um das Hören im Sinne ästhetischer Wahrnehmung thematisch werden zu lassen. Das Kinderhörspiel Zottelknäuel von Ricarda und Peter Behnke (2001) bietet aus meiner Sicht eine gute Gelegenheit für Kinder, sich mit den Anforderungen ästhetischen Hörens auseinanderzusetzen bzw. an diese herangeführt zu werden.
Die Vorlage bildet ein norwegisches Märchen, in dem eine Königstochter von ihrem Geliebten durch eine missgünstige Trollin getrennt wird. Da das Kind, das sie von ihm erwartet, nun als uneheliches Kind zur Welt kommen wird, verstößt ihr Vater sie und setzt sie in einem steuerlosen Schiff auf dem Meer aus. Dort bekommt sie ihr Kind, das aber durch die Zauberkräfte der Trollin in verhexter Gestalt – als Zottelknäuel – zur Welt kommt. Die Prinzessin ist zunächst entsetzt, aber als es dem Zottelknäuel nicht nur gelingt, das Schiff sicher an Land zu bekommen, sondern auch noch seinen Vater ausfindig zu machen und die Eltern zu vereinen, akzeptiert sie es. Die Geschichte endet damit, dass das Zottelknäuel seine eigentliche Prinzengestalt erhält.
Das Hörspiel bietet in seiner spezifischen Form eine Reihe von Situationen, die geeignet scheinen, kindliche ZuhörerInnen in den Zustand ästhetischen Hörens hineinzuziehen.
So wird die von Martin Seel als konstitutives Element ästhetischer Wahrnehmung herausgearbeitete Dimension der Offenheit (Seel 2003:146f.) des ästhetischen Hörens dadurch angeregt, dass Äußerungen und Elemente im Hörspiel nicht immer in einen funktionalen Zusammenhang – im Sinne naturalistischer Darstellung – eingeordnet werden können, sondern unterbestimmt bleiben.
Der Aspekt der Unterbestimmtheit lässt sich an verschiedenen Stellen und Ebenen des Hörspiels Zottelknäuel beobachten: Von Beginn an wird auf einen auktorialen Erzähler verzichtet. Dadurch bleibt die Einordnung des Geschehens und der Intentionen der Protagonisten, z.B. die Wahl der Identifikationsfigur, dem Hörer überlassen. Welche Figuren gut, welche böse sind und was sie jeweils denken und vorhaben, muss aus dem, was sie sagen und vor allem wie sie es sagen, geschlossen werden. Auch die szenische Gegenwart erschließt sich erst im Zusammenklang der verschiedenen Stimmen, die wechselnd monologisieren oder dialogisch agieren. Gelegentlich bleibt offen, ob Äußerungen für die Anwesenden in der Szene oder – als Beiseite – nur für den Zuhörer bestimmt sind. Ein Beispiel hierfür bildet die Szene, in der der König von der Schwangerschaft seiner Tochter erfährt. Es bleibt offen, welche der Äußerungen des Königs in der Szene für die Prinzessin hörbar sind und welche nicht. Außerdem meldet sich das noch ungeborene Zottelknäuel zu Wort – und scheint dem König auf die Sprünge zu helfen; die fiktionale Wirklichkeit stellt sich hier im Gesamtklang des Höreindrucks her, ohne dass die Adressierung der Äußerungen immer bestimmbar ist.
„König: Eines Morgens trete ich in die Kammer der Prinzessin und sehe, wie sie ihren Kamm fallen lässt.
(Geräusch des fallenden Kamms)
Prinzessin: (erschrickt) Ich hab mich erschrocken, Vater
Vater: Dann bück dich und hebe den Kamm auf
Prinzessin: Ich kann mich nicht bücken, Vater
König: Du kannst dich nicht bücken?
Zottelknäuel: Verflixt und zugenäht, sie wird eben ein Kind bekommen
König: Da denke ich, sie wird ein Kind bekommen. (Pause) Von wem? Sag es mir, dass du heiraten kannst. Aber die Prinzessin schüttelt nur den Kopf.
Zottelknäuel: Sie weiß es nicht oder sie will es nicht sagen
König: Weißt du es nicht oder willst du es nicht sagen?
Prinzessin: (seufzt)
Zottelknäuel: Sie schüttelt den Kopf und spricht von nun an gar nicht mehr. Es wird etwas Schreckliches geschehen.“ (Bethke 2001:o.A.)
Doch nicht nur im Nachvollzug der szenischen Handlung, auch in der Vergegenwärtigung des Aussehens der Hauptfigur ist der Zuhörer in besonderer Weise auf die Produktivität seiner Fantasie verwiesen, indem er darauf hingewiesen wird, dass sich dieses ständig verändert. Denn das uneheliche Kind der Prinzessin, das sich schon vor seiner Geburt im Hörspiel zu Wort meldet, wird durch den Zauberspruch der Trollin verhext und dadurch in seiner charakteristischen Gestalt als Zottelknäuel vorbestimmt: „Was da wächst, sei verhext. Verhext soll es sein, zottlig und klein. Mal dünn, mal dick, ein Zottelknäuel, ein Galgenstrick.“ (Ebd.) Es bewegt sich rollend, wird manchmal „gezaust“ und „verfitzt“, kann mit seinem Faden seine Mutter davor bewahren, ins Meer zu springen und seinen Vater aus dem Gefängnisturm abseilen. Seine Stimme – es wird von der Schauspielerin Carmen-Maja Antoni gesprochen – ist verstellt, klingt alt (keinesfalls wie eine Kinderstimme) und ein wenig wie eine Trickfilmfigur. Es steht damit eine Figur im Mittelpunkt der Handlung, deren Eigenartigkeit sich der eindeutigen visuellen Vorstellung zugunsten eines unbestimmten Imaginären entzieht.
Ein weiterer Aspekt, der laut Seel die ästhetische Wahrnehmung kennzeichnet, ist ihre Offenheit für die Interaktion der Sinne: Ästhetische Wahrnehmung „ist ein grundsätzlich ‚synästhetisches Vernehmen’“ (Seel 2003:147). Obwohl Hörspiele ausschließlich über den Hörsinn rezipiert werden, sind die anderen Sinne nicht inaktiv. In dem Hörspiel Zottelknäuel wird das Zusammenspiel der Sinne nicht nur durch verbal dargebotene Informationen und naturalistische Geräusche angeregt, sondern auch durch klanglich-experimentelle Gestaltung. Der Auftritt der Trollin ist umgeben von schneidenden schrägen Klängen, die sie wie eine Aura umgeben und verdeutlichen, dass sie einem eigenen, den Menschen nicht zugänglichen Raum angehört. Zugleich wird im dissonanten scharfen Klang deutlich, dass es sich um eine gefährliche Figur handelt. Bereits bevor die erste sprachliche Äußerung zu hören ist, ganz zu Beginn des Hörspiels, dringen diese Klänge als Störung in ein norwegisches Volkslied ein und lösen es auf. Das Motiv der Unordnung, der Störung, des Durcheinanderbringens bildet ein leitendes Prinzip für die Handlungsweise der Trollin. Die sonderbaren, ungegliederten, nicht einzuordnenden atmosphärischen Klänge bilden hierzu ein auditives Äquivalent.
Über die Offenheit für Unterbestimmtheit und Synästhesien hinaus, konstatiert Seel für die ästhetische Wahrnehmung ein Interesse an ihrer imaginativen Erweiterung, indem sie offen ist „für ein sinnliches Vorstellen, das die Gegenwart des realen und präsenten Anschauungsgegenstands mit einer Vergegenwärtigung sei es irrealer, sei es räumlich und zeitlich unerreichbarer Verhältnisse auflädt“ (Seel 2003:147).
Auch zu diesem Aspekt ästhetischen Hörens enthält das Hörspiel Anregungen: Im Verlauf der Handlung vergrößert die Trollin gelegentlich ihr Ohr und hört mit dem Riesenohr weit entfernte Ereignisse. In dem eingespielten Geräusch einer dieser Szenen erkennt der Zuhörer mit ihr einen Wasserfall – doch weiß die Trollin diesen weitergehend zu deuten und verlangt dem Zuhörer damit ein imaginierendes, umdeutendes Hören ab: „Ein Wasserfall! Die Trollin von Trollhaube aus Mittelnordnorwegen schüttet ihr Badewasser aus. Da schwemmt sie ein Stück neue Staumauer weg. Das ist trollig.“ (Bethke 2001:o.A.)
Dieses Beispiel ebenso wie andere Situationen und Aspekte des Hörspiels zeigen, wie das Hörspiel ästhetisches Hören provoziert und kindlichen ZuhörerInnen nahelegt, die Figuren, Orte und Szenen imaginierend auszuschmücken. In didaktischen Situationen könnte diese Anlage des Hörspiels unterstützt werden mit Anregungen, Höreindrücke in einem anderen Medium – in Bild, Bewegung oder Musik – auszugestalten und weiterzuführen.