Ästhetische Lern- und Lehrprozesse durch musikalische Improvisationen erfahrbar machen

Einblicke in inklusionsorientierte Seminarformate mit Musikstudierenden und Schüler*innen der Primarstufe im Förderschwerpunkt Hören

Artikel-Metadaten

von Ina Henning

Erscheinungsjahr: 2025

Peer Reviewed

Abstract

Dieser Beitrag gibt Einblicke in eine bestehende Kooperation zwischen dem Bildungs- und Beratungszentrum Hören St. Joseph und der Pädagogischen Hochschule in Schwäbisch Gmünd. Projekt 1 fokussierte ästhetische Transformationen von Musik in Sprache, Bild und Bewegung anhand des Bilderbuchs „Königin der Farben“ (Bauer), Projekt 2 ästhetische Transformationen von Musik und Bewegung anhand der „Moldau“ (Smetana). Die Studierenden konnten sich in den Rollen der Lernenden und Lehrenden erfahren, Perspektiven wurden über Gruppenportfolios (Projekt 1) sowie Einzelportfolios (Projekt 2) und dem Dialog zwischen Lehrperson und Hochschullehrender erfasst, ausgewertet und diskutiert.
Dabei lagen die Prinzipien der Kontingenz (Treß 2022) und des situativen Verständnisses eines Bewegens zwischen Struktur und Freiheit, Fremdem und Vertrautem, Individuum und Kollektiv in inklusiven wie improvisatorischen Kontexten (Gerland 2024) als Hypothesen der Auswertung zugrunde. Es zeigte sich, dass Studierende wechselseitige Bezüge erkennen wie z.B., dass sich Struktur und Freiheit nicht ausschließen müssen. Es wurde auch deutlich, dass es ihnen schwerer fällt, Freiheit im Verlauf der Unterrichtseinheit zuzulassen, da sie sich verantwortlich fühlten, zu jedem Zeitpunkt inhaltliche und methodische Klarheit für Schüler*innen im Arbeitsprozess zu gewährleisten. Als gelingende Momente ästhetischer Transformation schätzten Studierende wie Lehrende die Tiefe der Ausdrucksstärke, die durch emotionale Beteiligung der Schüler*innen entstand, sowie die Interaktion von verschiedenen ästhetischen Transformationen ein.

Einleitung

Dieser Beitrag und die hier beschriebenen Projekte entstanden auf Anregung des Arbeitstreffens des Themenclusters Inklusion und Kulturelle Bildung im Netzwerk Forschung Kulturelle Bildung. Beide Seminare „Musikalisch-ästhetische Improvisationserfahrungen mit dem BBZ Hören“ und „Die Moldau bewegt!“ fanden im Sommersemester 2023 und Wintersemester 2023/2024 an der Pädagogischen Hochschule Schwäbisch Gmünd, einer bildungswissenschaftlichen Hochschule mit universitärem Profil statt. Adressat*innen waren Musikstudierende der Lehrämter Primarstufe und Sekundarstufe I. Durch die Situierung des Instituts der Künste, Abteilung Musik in direkter räumlicher Nähe zu einem Bildungs- und Beratungszentrum mit Förderschwerpunkt Hören und Kommunikation bestand der Wunsch einer ständigen Bildungspartnerschaft. Die Schule für Hörgeschädigte St. Josef (BBZ Hören), dessen Träger die Genossenschaft der Barmherzigen Schwestern in Untermarchtal e. V. ist, ist eine staatlich anerkannte Ersatzschule. Derzeit besuchen rund 300 hörgeschädigte Kinder und Jugendliche die Einrichtung.

Zu Beginn des Beitrags soll das zugrundeliegende Inklusions- und Improvisationsverständnis, die Struktur und der Inhalt der Seminare sowie der Charakter der Zusammenarbeit mit den Akteur*innen umrissen werden. Anschließend wird das Forschungsinteresse, der Datenkorpus sowie die Auswertungsmethode beschrieben, bevor die Ergebnisse abschließend präsentiert und diskutiert werden.

Inklusions- und Improvisationsverständnis in den Projekten

Das dem Projekt zugrundeliegende Inklusionsverständnis stützt sich im Wesentlichen auf die vier Kriterien, die Mel Ainscow und Susie Miles der University of Manchester (UK) 2009 publiziert haben: Inklusion wird (1) in ihrer Prozesshaftigkeit verstanden, es gilt in diesem Prozess (2), Barrieren zu erkennen und zu beseitigen, sodass Inklusion (3) die Präsenz, Teilhabe und Leistungsfähigkeit aller Schüler*innen ermöglicht und (4) einen besonderen Schwerpunkt auf jene Gruppen von Lernenden legen kann, die von Marginalisierung, Ausgrenzung oder Leistungseinbußen durch fehlende Unterstützung bedroht sind (Ainscow/Miles 2009:3, Ü. d. V.). Die Inklusionsorientierung im Seminar bestand einerseits im Hinterfragen von Aspekten, die die Differenz des Hörens und die soziale Situation des Settings betrafen (reflexive Inklusion, Budde/Hummrich 2014), andererseits in der Gestaltung von inhaltlichen Aufgaben zu Improvisation, die einen möglichst barrierefreien Zugang zum gemeinsamen Lerngegenstand herstellen sollten (Weber 2020).

Bezüglich des Seminarinhalts –musikalische Improvisation– lässt sich Musik als soziale und künstlerische Praxis insofern als inklusiv bezeichnen, als dass sie vielfältig auf Menschen wirkt (Gerland 2023 o.S.). Juliane Gerland stellt das besondere Potenzial von Musik und insbesondere musikalischer Praxis für inklusive Lern- und Bildungsprozesse heraus (ebd.), das sich über eine Vielzahl von Aneignungsmöglichkeiten sowie Lernumgebungen präzisieren lässt (siehe Inklusionspapier BMU 2024). Bezüglich der oft widersprüchlichen Anforderungen zu den Umsetzungen von Inklusion sehen Wolfgang Schönig und John Andreas Fuchs (2016) die Notwendigkeit, dass „die antinomische Spannung zwischen den Gerechtigkeitsprinzipien der egalisierenden Gerechtigkeit (Universalität, Gleichheit) und der unterscheidenden Gerechtigkeit (Individualitätsbildung) für das Bildungsgeschehen respektiert und fruchtbar gemacht wird“ (Schönig/Fuchs 2016:15). Diese Forderung lässt sich auf inklusives Musizieren übertragen, indem didaktisch gleich-„wertige“ Möglichkeiten der Partizipation aller Schüler*innen über die Gestaltung inklusiver Lern-Lehrumgebungen geschaffen werden. In diesen kann beispielsweise improvisierendes Musizieren oder Bewegen als Gestaltungsmittel wirksam werden.

Das Lehr-Lernforschungsprojekt wurde in Kooperation mit dem BBZ Hören durchgeführt. Dem Projekt liegt durch die Wahl der Kooperation mit einer Schule mit Förderschwerpunkt ein enges Inklusionsverständnis mit der Differenzfokussierung auf den Punkt Beeinträchtigung des Hörens zugrunde. Gleichwohl wurden in diesem Setting Mikrofokussierungen auf andere Differenzaspekte (besonders im Projekt zu Musik und Bewegung der Fokus auf Gender) sichtbar, die allerdings für diesen Artikel nicht als Schwerpunkt ausgewählt wurden.

Projekt 1: Musikalisch-ästhetische Improvisationserfahrungen mit dem BBZ Hören

Das Seminar „Musikalisch-ästhetische Improvisationserfahrungen mit dem BBZ Hören“ wurde von 20 Studierenden beider Lehrämter (Primarstufe und Sekundarstufe I) wöchentlich besucht. Es trug den Kerngedanken, Improvisation für Studierende über eigene Improvisationserfahrungen in Kleingruppen greifbar zu machen, aber auch durch den Rollenwechsel, von der Rolle der Lernenden in die Rolle der Lehrenden zu schlüpfen, neue Erkenntnisse zu ermöglichen. Nach einem ersten praktischen Impuls durch freie Gruppenimprovisation waren die Studierenden aufgerufen, zunächst theoretisch über bildungswissenschaftliche Aspekte zu reflektieren.

Theoretische Seminarinhalte

Drei Hauptaspekte standen hierbei im Vordergrund: (i) Ungewissheit im unterrichtlichen Handeln als Lehrperson als Herausforderung zu identifizieren (Paseka 2018) und als eine der Antinomien im Professionshandeln zu erkennen (Helsper 2016), (ii) Kontingenz im Vorgang der musikalischen Improvisation wahrzunehmen (Treß 2022) sowie (iii) Improvisation bildungswissenschaftlich nicht als Indikator mangelnder Planung, sondern als Kompetenzziel, das Raum für Scheitern und Entwicklung lässt, zu entdecken (Thomann/Honegger 2021).

Ungewissheit für den Lehrberuf wird seit längerem in der Professionsforschung als Strukturmerkmal benannt und erforscht (Bonnet et al. 2021). Hier konnte der Essay von Georg W. Bertram und Michael Rüsenberg „Improvisieren! Lob der Ungewissheit“ Brücken bauen, um Ungewissheit im Hinblick auf die Gestaltung von Musikunterricht mehrperspektivisch zu betrachten. Improvisation als zentrales Moment –hier in ihrer explorativen Kraft benannt (Bertram/Rüsenberg 2021:106)– konnte als Gabe und Chance, Ungewissheit gewinnbringend zu adressieren, benannt werden und der Nutzen für eine bewegliche und lebendige Lehrposition erkannt werden (ebd.: 107). Des Weiteren konnte Ungewissheit als didaktische Strategie theoretisch sichtbar werden, die darauf abzielt, nicht im Voraus geplante Lern-Lehrsituationen zuzulassen und produktiv damit zu werden (Bonnet et al. 2021). Improvisation wird zum Mittler des Prozesses, der Irritationen zulässt und produktiv wendet, indem immer wieder neu verhandelt werden kann, wie Prozess und Produkt in Zusammenhang stehen (Bähr et al. 2019).

Überschneidungspunkte zwischen Improvisation und Inklusion werden im folgenden Zitat deutlich: „Sowohl in Bezug auf die Inklusionsorientierung des beschriebenen Seminars als auch für die Praxisformen der musikalischen Gruppenform erscheint gerade das beschriebene Oszillieren zwischen Struktur und Freiheit, Fremdem und Vertrautem, Individuum und Kollektiv entscheidend, um einerseits musikalisch immer differenzierter ausdrucksfähig zu werden und andererseits Gemeinsamkeiten und Differenzen produktiv erlebbar zu machen.“ (Gerland 2024, o.S.)

Daraus ist jedoch keine Gleichsetzung zwischen Improvisation und Inklusion abzuleiten (Gerland 2024; Treß 2022:314ff.). Dazu kann angemerkt werden, dass jüngste Forschung aufzeigt, dass längst nicht alle improvisatorischen Prozesse inklusiv verlaufen, es lässt sich begründet hinterfragen, wann inklusives improvisatorisches Handeln unter welchen Bedingungen gelingt oder nicht gelingt (Henning/Teipel 2023 o.S.). Interessant scheint der Gedanke, dass es ein „Dazwischen“ gibt, ein Oszillieren, das im erziehungswissenschaftlichen Inklusionsverständnis als interaktives und situatives Differenzverständnis (Oldenburg 2021:6) beschrieben wird oder sich als einem Akt situativer Aushandlung und Auslotung (ebd.: 58) zeigt. Dieses entscheidet darüber, wie der musikalische Prozess fachlich ausdifferenziert werden kann und wie auch auf den ersten Blick konträre Aspekte des (sozialen) Zusammenwirkens im Tun eine Perspektivierung erfahren.

Praktische Umsetzung und prozedurales Vorgehen

Nach Einführung und Besprechung der oben genannten theoretischen Aspekte wurde mit den Studierenden inhaltlich ein Gemeinsamer Lerngegenstand (Feuser 2013) bestimmt, der für die Gestaltung des Angebots an die Schüler*innen im Mittelpunkt stand. Das Bilderbuch „Königin der Farben“ (Bauer 2017), welches die Grundfarben rot, gelb und blau mit Stimmungen verknüpft und so Emotionen evoziert, wurde aufgrund seines elementaren Gehaltes, den gut gegliederten Anteilen sowie dem nachvollziehbaren Handlungsverlauf der Geschichte ausgewählt. Dem Unterrichtsgegenstand wurde eine hohe Attraktivität für Improvisationsprozesse und zugleich für wandelbare ästhetische Transformationsprozesse (Oberschmidt/Zöllner-Dressler 2019) zugesprochen. Die Studierenden begründeten dies über die eigene Erfahrung: sie improvisierten in Kleingruppen selbst mit erweitertem Orff- Instrumentarium zunächst explorierend zum Buch.

Um der Gruppengröße der Schüler*innen am BBZ Hören (zehn Schüler*innen mit unterschiedlichem Hörspektrum, sechs weiblich, vier männlich in einer dritten Primarschulklasse) zu entsprechen, wurde vereinbart, in Kleingruppen zu fünf Studierenden die Verantwortung für eine Improvisationseinheit zu übernehmen; weitere fünf Studierende fungierten wöchentlich als Beobachter*innen, die weiteren Studierenden bereiteten in dieser Zeit die nächste Lerneinheit vor oder reflektierten mit den Studierenden der Vorgruppe ihre Einheit. In diesem rotierenden System wurde durch wechselseitige Verantwortungsübernahme eine Handlungsstruktur geschaffen, die eine abwechselnde aktive Beteiligung sowie hohen kommunikativen Austausch ermöglichte.

Projekt 2: „Die Moldau bewegt!“ mit Schüler*innen des BBZ Hören und Studierenden

Das Seminar „Die Moldau bewegt!“ wurde im Masterstudiengang Lehramt Primarstufe von neun Studierenden belegt. Ziel des Seminars war es, mit Schüler*innen des BBZ Hören auf ein Thema mit dem Körper improvisierend zu reagieren. Grundgedanken waren, dass das Gestische der Musik eine wichtige Säule im Verstehensprozess von Musik bilden kann (Gruhn 2014:101) und die didaktische Umsetzung von Musik in Bewegung einen hohen Aufforderungscharakter trägt (Schönwitz 2008:146f.). Die Studierenden entschieden sich aus Anlass des 200. Geburtstages des Komponisten Bedřich Smetana (1824–1884) für die symphonischen Dichtung „Die Moldau“. Die Komposition zeichnet sich einerseits durch gut erkennbare musikalische Formteile aus, die sich für einen elementaren Zugang eignen. Außerdem besitzt sie einen musikalischen Gehalt, dem nach einem ersten Durchhören von Studierendenseite ein hohes Potenzial zur ästhetischen Transformation in Bewegung zugeschrieben wurde.

Theoretische Seminarinhalte

Die Komposition wurde von Studierenden nach mehrfachem Durchhören in Abschnitte geteilt, die sich gut mit verschiedenen Bewegungsformen und -angeboten für Schüler*innen verknüpfen ließen. Dabei spielten Aspekte des Melodieverlaufs, der Harmonik und der Rhythmik eine Rolle. Verschiedene Formen musikalischer Analyse wurden am Gegenstand nicht alleine musiktheoretisch, sondern musikpraktisch wirksam, indem der Gestus der Musik über den Körper herausgearbeitet wurde (siehe Gruhn 2014; Oberschmidt 2017).

Als theoretisches Fundament für die ästhetische Transformation in Bewegung wurden hierzu die „acht Antriebe“ von Rudolf von Laban aus der Tanztheorie vermittelt (Laban 1960). Diese Analyseform des ungarischen Tänzers, Choreographen und Tanztheoretikers von Laban (1879-1958) zeichnet sich durch ein System der Wahrnehmung von Bewegung unter den zentralen Aspekten Raum, Kraft, Zeit und Fluss aus, welches die Tanztheorie und -praxis des 19. und 20. Jahrhunderts entscheidend geprägt hat. In diesem Kontext dienten sie den Studierenden einerseits dazu, elementare Formen der Bewegung für das eigene Bewegungsspektrum einzusetzen und andererseits, um Bewegungsmuster der Schüler*innen im inklusiven Setting zu erkennen (Henning 2019:45ff.).

Praktische Umsetzung und prozedurales Vorgehen

Der Ablauf des Seminars gestaltete sich wie oben bereits beschrieben auch hier in wechselseitiger Verantwortungsübernahme der Studierenden für die Unterrichtseinheiten. Es nahmen acht Schüler*innen mit unterschiedlichem Hörspektrum, fünf weiblich, drei männlich einer vierten Primarschulklasse am Projekt teil. Als Raum stand in beiden Projekten ein großzügiger tageslichtdurchfluteter Musikraum im Erdgeschoss des Hauptgebäudes der Einrichtung sowie ein Rhythmikraum für das 2. Projekt zur Verfügung; dieser bot genügend Platz für einen Stuhlkreis sowie den Einsatz von Instrumentarium oder freier Bewegung. Die Studierenden beider Seminarprojekte wurden aufgefordert, ihre Erfahrungen wöchentlich in einem Portfolio festzuhalten. Im ersten Projekt wurde in den Fünfergruppen ein Gruppenportfolio geführt, im zweiten Projekt sollte ein Einzelportfolio eingereicht werden.

Datengewinnung, Hypothesen und Forschungsfragen

Als Datenkorpus zur Analyse lagen (I.) vier Gruppenportfolios, (II.) neun Einzelportfolios (inklusive einer kurzen Bewegungsanalyse einer einminütigen Videosequenz) und (III.) ein Dialoggespräch über beide Projekte zwischen der Musiklehrkraft und der Hochschullehrenden vor.

Zwei Hypothesen bestimmten den Forschungsprozess: 
Hypothese 1: Improvisation zeigt sich als kontingenter Prozess (Treß 2022), kontingente Prozesse können Schlüsselmomente Umgang mit Ungewissheit in der kunst- und theaterpädagogischen Vermittlungspraxis –so auch musikpädagogischer (Vermittlungs)-praxis– sein (Schürch/Willenbacher 2019). Dieser kontingente Prozess manifestiert sich in drei Bereichen „zwischen Improvisation und Komposition“ (Treß 2022:14), zwischen „Freiheit und Gebundenheit“ (ebd.:17) und „zwischen Individuum und Gruppe“ (ebd.:19). Hypothese 2: Auch inklusionsorientiertes Arbeiten zeichnet sich durch Oszillieren zwischen Struktur und Freiheit, Fremdem und Vertrautem, Individuum und Kollektiv aus (Gerland 2024 o.S., siehe Zitat oben).

Hieraus ergeben sich die vorliegenden Forschungsfragen, die sich auf zwei Ebenen abbilden lassen:

  1. Wie sprechen Studierende als Lehrende und Lernende im Hinblick auf Improvisation in einer inklusionsorientierten Lern-Lehrumgebung über ihre Erfahrungen mit dem Oszillieren zwischen
    a) Struktur und Freiheit hinsichtlich des musikalischen Handelns und des Lern-Lehrsettings, 
    b) individueller und kollektiver Beteiligung im Hinblick auf Schüler*innen und Studierende hinsichtlich Improvisation, aber auch hinsichtlich der Inklusionsorientierung,
    c) Fremdem und Vertrautem im musikalischen Vorgang des Improvisierens, aber auch im Bezug zum inklusiven Lern-Lehrsetting?
  2. Welchen Blickwinkel auf Schüler*innen und Studierende nehmen die Lehrenden (Musiklehrerin und Dozentin der Kurse) im Dialog hinsichtlich des „Dazwischen“ in Improvisation und Inklusion auf
    a) Struktur und Freiheit hinsichtlich des musikalischen Handelns und des Lern-Lehrsettings, 
    b) individuelle und kollektive Beteiligung hinsichtlich Improvisation, aber auch hinsichtlich der Inklusionsorientierung,
    c) Fremdes und Vertrautes im musikalischen Vorgang des Improvisierens, aber auch im Bezug zum inklusiven Lern-Lehrsetting ein?

Im Folgenden werden die Arbeitsergebnisse präsentiert. Zuerst wird immer der Blick in ausgewählten Beispielen aus Projekt 1 und 2 von Studierenden auf ihre Wahrnehmung bei den Schüler*innen gerichtet. Dann werden Zitate von den Lehrenden zunächst auf die Arbeit mit Schüler*innen, im Folgenden auf die Arbeit mit den Studierenden gerichtet. Unterschiede und Gemeinsamkeiten werden in der Diskussion ausgearbeitet.

Auswertungsmethode und Ergebnisse

Das gesamte Datenmaterial wurde qualitativ inhaltsanalytisch anhand deduktiver und induktiver Kategorienbildung ausgewertet (Kuckartz/Rädiker 2022). Auf Grundlage des oben unterbreiteten theoretischen Gerüsts wurden die vorgestellten drei Überkategorien deduktiv gebildet, die induktiven Unterkategorien betreffen Faktoren wie Beobachtungen zur ästhetischen Transformation, inklusive Momente, Umgang mit dem Förderschwerpunkt, von denen ausgewählte Aspekte thematisiert werden.

Oszillieren zwischen Struktur und Freiheit

Die Gruppen im Projekt 1 äußerten sich zu den Graden von Freiheit und Struktur als didaktisches Mittel dergestalt, dass Struktur vor Überforderung schützen könne. So schrieb eine Gruppe: „Um sicherzustellen, dass die Auswahl und Nutzung der Instrumente die Kinder nicht überfordert, haben wir uns entschieden, bereits im Voraus Instrumentenkisten für die jeweiligen Farben vorzubereiten. Dies ermöglicht nicht nur eine gelenkte eigenständige Entscheidung, sondern erlaubt auch das Austauschen oder Wechseln der Instrumente, um Abwechslung und Begeisterung aufrechtzuerhalten.“ (Text 4, Pos. 4) (Herv. d. V.).

Auch eine andere Gruppe äußerte sich ähnlich: „Auch wenn Improvisation freies Spielen bedeutet, kann es trotzdem von Vorteil sein, die Improvisation leitend durchzuführen. Die Lehrperson sollte dabei einen klaren Verlaufsplan haben und die Unterrichtsstunde anleiten. Dabei kann die eingeplante Zeit für einzelne Schritte variieren. Ein klar geplanter Unterricht ist für die Lehrperson unabdingbar.“ (Text 2, Pos. 20)

Im folgenden Zitat wird Freiheit mit „Bewertungsfreiheit“ assoziiert: „Ein weiterer Punkt ist die Freiheit, welche jede Person bei der Improvisation hat. Diese sollte nicht verloren gehen, indem andere Teilnehmer*innen bewertend agieren. Der respektvolle Umgang miteinander ist von großer Bedeutung. Ohne diesen kann eine Improvisation nicht stattfinden. Gerade in der Schule und beim Durchführen mit Kindern und Jugendlichen ist dies sehr wichtig und sollte auf jeden Fall besprochen werden.“ (Text 2, Pos. 19)

Auch „Entscheidungsfreiheit“ wurde als Faktor wurde genannt: „Die Schüler*innen können selbst entscheiden, ob sie sich bewegen oder musizieren wollen. Die Königin darf sich bewegen oder musizieren. Die Farben können geschlossen eines von beidem machen oder sich in die Gruppe der Tanzenden und die der Musizierenden aufteilen.“ (Text 1, Pos 9-11).

Der Punkt „Struktur und Freiheit“ kam auch in den Einzelportfolios in Projekt 2 zum Tragen, allerdings in veränderter Form. Hinsichtlich der ästhetischen Transformation von Musik in Bewegung stellten die Studierenden fest, dass sich Struktur und Freiheit nicht entgegenstehen, wenn sie sich mit Schüler*innen zur Musik bewegen. Die anfängliche Sorge, dadurch Bewegungsmuster zu sehr festzulegen, löste sich auf, da die Studierenden sich als Mitbewegende verstanden und sich leicht zeitversetzt den Bewegungen der Schüler*innen anpassten.

„Doch auch, wenn die Schüler*innen Orientierung benötigen, ist es dennoch wichtig, ihnen die Freiheit zu lassen, sich so zu bewegen, wie sie es möchten. Dies ermöglicht ihnen auf ihre eigene Art und Weise in die Musik einzutauchen. Die Aufgabe der Lehrperson ist es somit nicht, die alleinige Führung mit den Tüchern zu übernehmen, sondern auch die Schüler*innen zu spiegeln. Dieses Wechselspiel aus Freiheit und Orientierung wurde von den Schüler*innen gut angenommen.“ (Text f, Pos. 11-16)

Auch hinsichtlich der strukturellen Vorgaben (hier blaues Tuch=Assoziation Wasser) wurde mit dem Augenmerk auf mehr Freiheit deutlich, dass die Studierenden Abweichungen von der Norm wertschätzen lernten: „Die meisten wählten ein blaues Tuch, ein paar wenige ein lila oder grünes und ein Junge wählte ein rotes Tuch. Wir waren erst etwas verwirrt über die Farbwahl, aber als er auf Nachfrage hin erklärte, dass er sich einen Lavafluss vorstellte, wurde uns auch hier wieder bewusst, wie verschieden die Vorstellungen und Auffassungen sein können und fanden seine Idee sehr kreativ.“ (Text a, Pos. 5-6)

Auch die Lehrkräfte äußerten sich über die Gestaltungsfreiheit im Projekt, die von diesem Schüler individuell genutzt wurde: „Wir hatten ja einen Jungen, der mit Lava und Feuer und so, das war ja ganz auffällig, dass er nicht so auf das Wasser eingestiegen ist, was ich total gut fand. Ja. Das war das ganz Eigene...“ (Lehrkraft W, Pos. 121-122)

Die strukturelle Gestaltung des Projekts wurde von der Hochschuldozentin als eigenverantwortlicher Prozess wahrgenommen, der von Studierenden gestaltet wird.
„…wo sie [die Studierenden] nochmal überlegt hatten, wie kriegen wir das überhaupt hin, dass wir in einer Stunde quasi diesen Ablauf nochmal gestalten. Und braucht es dazu einen Spielleiter oder eine Spielleiterin. Das hatten sie sich ja dann für sich so entschieden, die Studierenden. Und sie sie haben selbst nochmal organisiert, was brauchen sie, welche Gruppe macht was.“ (Lehrkraft H, Pos. 25-28).

Die Lehrkraft W differenziert dies weiter: „Also die Kinder haben gespürt, das ist jetzt hier mein Gruppenleiter, der gibt den Rahmen. Aber wir gestalten ihn. Es war nicht so ein, wir machen euch was vor, ihr macht es nach, ihr macht es mit. Sondern aber wirklich Raum für das eigene.“ (Lehrkraft W, Pos. 26-27)

Auch thematisierte sie das Loslassen eigener Vorstellungen, um den Studierenden die Freiheit zu lassen, eigenständig zu agieren: „Ja, da war für mich noch so ein Knackpunkt. Ja, das ist ja immer, man hat ja eigene Assoziationen und Vorstellungen davon, wie die Bewegungen sein sollen. Also mir persönlich waren zum Beispiel die Bewegungen der Studierenden bei den Quellen am Anfang oft schon zu früh zu groß. Da war der Prozess nicht für mich erkennbar. Dieses wirklich, dieses ganz Kleine am Anfang. Also da musste ich dann auch loslassen.“ (Lehrkraft W, Pos. 129-133)

Oszillieren zwischen individueller und kollektiver Beteiligung

In beiden Projekten war sowohl eine individuelle Beteiligung durch differenzierte Aufgabenstellungen als auch kollektives und damit gemeinsames Arbeiten in den Lernaufgaben im Prozess und auf das Produkt hin erkennbar. Die Studierenden sahen den Vorteil in der 1:1 Auseinandersetzung mit einem Instrument darin, den Klang sowie die Überlegung des Ausdrucks durch diesen methodischen Schritt anzubahnen: „Eine weitere methodische Überlegung bestand darin, dass die Schüler*innen ihre Instrumente vor der freien Improvisation erst einmal einzeln ausprobieren dürfen. Dadurch können die Schüler*innen erstens herausfinden, welche Klänge dem ausgewählten Instrument entlockt werden können und zweitens für sich evaluieren, inwieweit ein Passungsverhältnis zwischen dem erzeugten Klang und den im Buch vermittelten Emotionen bestehen könnte.“ (Text 3, Pos. 14-15)

Der Stellenwert des Individuellen wurde im Hinblick auf Selbstwirksamkeit und Wertigkeit von den Lehrkräften hervorgehoben: 
W: „Ich glaube, das war überhaupt das, was die Kinder auch als sehr bereichernd erlebt haben. Dieser Raum für das eigene. Diese Selbstwirksamkeit. Dieses: Meine Idee ist es wert.“
H: „Genau. Gehört zu sein, aber auch wertgeschätzt zu werden. Die anderen schauen auf mich, jetzt ist mein Raum, mein Einsatz.“ (Dialog Lehrkräfte WH, Pos. 29-32)

Besonders im Hinblick auf das Produkt, die Performance, kam der Fokus auf die kollektive Beteiligung in den Blick: „In der Abschlussperformance konnte zum einen auf gemeinsame Vorerfahrungen der Lernenden und der Lehrenden zurückgegriffen werden, zum anderen wurden die einzelnen Farb-Gruppen neu zusammengesetzt, eine Gruppe von Farb-Schauspieler*innen kam dazu. Vereinzelt verhaltenes Improvisieren im Vorfeld wurde nun im gemeinsamen Agieren aller zu reiner Spielfreude mit Spaß und Begeisterung und mit spontanen Reaktionen aufeinander.“ (Text 3, Pos. 34-35)

Der gemeinsame Erfahrungsraum aus vorhergehenden Improvisationen konnte nun dazu verwendet werden, Altes und Neues miteinander zu verbinden. Der Übergang vom zurückhaltenden Spiel zu einem offenen Ausdruck, der Ungewissheit und Spontaneität zulässt, wurde als wertvolle Bereicherung empfunden.

Im Bewegungsprojekt äußerten sich die Studierenden dazu, dass sich sowohl individuelle Anteile der Bewegung als auch daraus entstehende synchrone kollektive Anteile beobachten ließen: „Durch die verschiedenen individuellen und dann öfters entstehenden synchronen Anteile konnte man gut beobachten, welche Schüler*innen sich gerne eigene Bewegungen ausdenken oder lieber sich von anderen inspirieren lassen und Bewegungen nachzumachen.“ (Text a, Pos. 7)

Die Studierenden stellten auch Aufgaben, die sowohl individuelle als auch kollektive Anteile in schnellem Wechsel erforderten: „Hielt die Lehrkraft das rote Tuch hoch, wurde allein getanzt, beim grünen Tuch wurde in gemeinsam getanzt. Beim gemeinsamen Tanzen ließ sich beobachten, dass anfangs eher Paare gebildet wurden, im Laufe der Musik dann aber größere Gruppen entstanden, bis zum Ende dann alle Teilnehmer eine große Gruppe bildeten.“ (Text a, Pos. 25)

Die Lehrkräfte reflektierten kritisch über dieselbe Aufgabe:
W: „Mit diesem Spiel am Ende, mit dem roten und dem grünen Tuch, einer, alle, das war so beliebig, das hat nicht immer zur Musik gepasst.“
H: „Ja, da war der Fokus bei: ich darf jetzt alle tanzen lassen, der Fokus war aber nicht mehr bei der Musik.“
W: „Genau, das fand ich schade, da weiß ich aber nicht, ob das wieder über Lernen am Vorbild gehen würde, oder, ob es noch offener sein müsste, dass man sagt, wenn ihr das Gefühl habe, jetzt sind ganz viel beieinander, dann kommt ihr zusammen, und wenn ihr das Gefühl habt, jetzt ist das Instrument allein, dann tanzt ihr allein, ohne dass einer das angibt, dann wäre die Aufmerksamkeit wieder beim einzelnen und jeder würde auf die Musik hören.“ (Dialog Lehrkräfte WH, Pos. 114)

Oszillieren zwischen Fremdem und Vertrautem

Die Studierenden antizipierten das freie Bewegen vor einer fremden Gruppe zu Musik als mögliche Hemmschwelle für Schüler:innen und äußerten sich so zu ihrem methodischen Vorgehen: „Die Schüler*innen und zwei Studierende haben dann eine Bewegungsimprovisation zu dieser Musik gemacht. Die Beteiligung der Studierenden an der Bewegungsimprovisation galt der Unterstützung und Förderung der Schüler*innen. Da eine solche Improvisation vor einer fremden Studierendengruppe eine verletzliche bzw. intime Situation darstellen kann, wollten wir die Schüler*innen nicht nur dabei beobachten, sondern selbst teilnehmen. Hierbei wurden Chiffontücher miteinbezogen.“ (Text 3, Pos. 24)

Auch die Lehrkraft schätzte den Aspekt „Fremdsein“ aus der Schüler*innenperspektive als Faktor ein, der das Beziehungsgeschehen, aber auch die Beteiligung beeinflusst: 
W: Ich glaube beim ersten Mal hatte ich noch so ein bisschen das Gefühl, sie wollten es ganz recht machen. Ich glaube da ging es vor allem um den Beziehungsaspekt, die wollten unbedingt akzeptiert werden von diesen jungen Student*innen. Die wollten gefallen, die wollten gemocht werden, also da war der Beziehungsaspekt besonders wichtig.“ (Dialog Lehrkräfte WH, Pos. 11-12)

Fremdheit in der Lesart von Unsicherheit zeigte sich auf Seiten der Studierenden im Umgang mit dem Förderschwerpunkt Hören: „Eine weitere Frage, die ganz am Anfang in der Vorbereitung aufgekommen ist, umfasst die Unterschiede im Hörvermögen innerhalb der Klasse. Da Schülerinnen und Schüler unterschiedliche Hörfähigkeiten haben können, war es wichtig zu überlegen, wie diese Unterschiede bewältigt werden könnten, um sicherzustellen, dass niemand benachteiligt wird.“ (Text 4, Pos. 5)

Fremd war für die Studierenden auch der Ansatz, sich im Teamteaching in die Planung und Durchführung der Einheiten zu begeben. Dies wurde nicht einseitig reflektiert, aber als Herausforderung formuliert: „Eine Unterrichtsstunde, besser gesagt eine ganze Unterrichtseinheit zu fünft zu planen hat zwar den Vorteil, dass viele verschiedene Möglichkeiten und Ideen zur Gestaltung und Durchführung einer Unterrichtsstunde aufkommen, dass man sich viel besprechen und aufteilen kann und dass vieles aus unterschiedlichsten Blickwinkeln betrachtet werden kann. Es ist aber nicht einfach, alle Meinungen und Ideen, Einwürfe, Abläufe etc. unter einen Hut zu bringen.“ (Text e, Pos. 16)

Auch im zweiten Projekt wurde das Teamteaching als herausfordernd benannt: „Außerdem fiel auf, dass der Unterricht durch viele Lehrkräfte nicht zwangsläufig erleichtert wird, sondern einige Hürden aufkommen. Jede Person präferiert andere Methoden, hat abweichende Ideen oder Vorstellungen. Im Unterricht ist es jedoch schwierig, sich abzusprechen, weswegen es zu Unstimmigkeiten kommen kann.“ (Text 4, Pos. 11)

Die Musiklehrkraft und die Hochschuldozentin vertraten eine positivere Auffassung, dass Fremdheit/Unsicherheit durch das Teamteaching erfahrbar gemacht und dass sie über die Form des Teamteaching überwindbar erscheint: 
W: „Das [Teamteaching] ist eine Riesenherausforderung [gewesen], aber die haben sie sehr gut gemeistert und das ist ja etwas, was im Lehreralltag  fehlt. Dass man als Team im Alltag gemeinsam etwas auf die Beine stellt.“
H: „Genau, das sind so Aspekte von Teamteaching, wenn man die mal im Studium erfahren hat, dass es auch gelingt, auch wenn man in so einer Situation ist, wo man eben nicht sagen kann, ja gut, ich habe es vorbereitet, ich weiß jetzt nicht, was da draus entsteht, ich muss es loslassen und auch als Gruppe, ich weiß jetzt nicht, wie der andere weitermacht. Mal gucken, kann ich da trotzdem den Ball wieder auffangen. Das sind ja so Situationen, die für später vorbereiten.“
W: „Ja, das ist wichtig, die Unsicherheit zu spüren und auszuhalten.“ (Dialog Lehrkräfte WH, Pos. 61-63)

Vertrautheit mit der Musik durch Bewegung dagegen spielte aus Sicht der Lehrkräfte bei den Schüler*innen eine Rolle, um sie tiefer zu verankern, ebenso der Aspekt des Eintauchens, der durch die ästhetische Transformation von Musik und Bewegung ermöglicht wurde:
W: „Und wie sie dann immer gesagt haben, ah, jetzt kommt die Szene und jetzt kommt die Szene und jetzt kommt die Szene. Also es war alles so, sie konnten die Teile ganz klar benennen, sie wussten genau, wo sie waren, sie waren total orientiert, sie wussten ganz genau, was kommt. Also, da habe ich gemerkt, dieses viele Hören und Bewegen, die unglaublich gut vorbereitet hat, in die Musik einzutauchen.“ (Dialog Lehrkräfte WH, Pos. 76-77)

Vertrautheit mit dem Gegenstand herzustellen ist eine Zielsetzung, die sich die Studierenden für die Schüler*innen auch im ersten Projekt gesetzt haben: „Ziel der Wiederholung war es für uns, dass die Schüler*innen ihre Erfahrungen zu den Farben festigen und somit anhand dieser Präkonzepte neue Erfahrungen im Hinblick auf die Farbe Gelb machen können. Somit sollen die neuen Erfahrungen mit den bisherigen Erfahrungen verknüpft werden.“ (Text 3, Pos. 10)

Diskussion

Das Oszillieren zwischen Freiheit und Struktur wurde hinsichtlich beider Aspekte reflektiert: Freiheit wurde im Material als Abweichung von der Norm, Bewertungsfreiheit, Entscheidungsfreiheit, Bewegungsfreiheit, kreative Freiheit, als eigenverantwortlicher Prozess, als Raum für das Eigene, als Loslassen aus den Perspektiven der Studierenden und der Lehrenden erlebt und benannt. Struktur wurde von den Studierenden positiv besetzt und als Schutz vor Überforderung, Vorgabe zum Gelingen, Orientierung durch Spiegelung, klar geplantes Setting, Klarheit in Anweisungen, gute Stundenstruktur gekennzeichnet. In einem Zitat sprachen Studierende von „gelenkter Eigenständigkeit“ (oben kursiv im Zitat hervorgehoben); dies kann als Oxymoron gelesen werden. Es drückt in diesem Kontext aber aus, dass sich Lenkung und Freiheit nicht ausschließen (was sich in der Reflexion wieder an entsprechende theoretische Literatur zu Improvisation anbinden ließ). Die Paradoxie gelenkter Freiheit lösten die Gruppen offenbar durch den Versuch einer Trennung von äußeren (meist methodischen) und  didaktisch-inhaltlichen Rahmenbedingungen.

Das Oszillieren zwischen Individualität und Kollektivität verwies zunächst auf die Vorteile des individuellen Explorierens, das „Eigene“ zu finden, zu gestalten und Differenzierungen im Klang sowie der Bewegung auszuloten. Das Kollektive wurde auf das Setting bezogen, das beim gemeinsamen Gegenstand in der Improvisation einen hohen Beteiligungsgrad ausgelöst hat und Studierende zu  einer Interpretation von „inklusiv“ führte. Im Projekt mit dem Fokus Musik und Bewegung wurde deutlich, dass sich individuelles Bewegen und kollektives Bewegen und Bewegt-sein/werden sich nicht ausschließen, sondern wechselseitig durchdringen. Es zeigte sich aber auch, dass durch einen ungelenkten Fokus auf individuelles und kollektives Bewegen (durch entsprechende Anleitung) der gemeinsame Gegenstand und die Passung zur Musik verlorengehen kann.

Das Oszillieren zwischen Fremdem und Vertrauten ließ sich ebenfalls auf mehreren Ebenen abbilden. Zum einen wurde die Beziehungsebene angesprochen, die bei Studierenden durch die zu Beginn nicht bekannten Bedarfe des Förderschwerpunkts und die Gewöhnung an entsprechende Unterstützungssysteme (wie z.B. Höranlage, Gebärdensprache) für ein Fremdheitserleben sorgte. Das Gefühl von Unvertrautheit entstand bei Studierenden aber auch durch den Umstand, dass dem Teamteaching einen großen Stellenwert in Vorbereitung und Durchführung der Projekte gegeben wurde. Die Haltung hierzu war ambivalent: es wurde zum einen als gewinnbringend empfunden, einen größeren Pool an Ideen zur Verfügung zu haben. Jedoch wurde es auch als anstrengend und nicht immer befriedigend empfunden, in entsprechende Aushandlungsprozesse über methodische und didaktische Herangehensweisen eintreten zu müssen und Unklarheiten im Prozess aushalten zu müssen. Die Lehrkraft und die Dozierende dagegen vertraten eine deutlich positive Sichtweise auf Teamteaching als eine der zu erlernenden, zu erwerbenden Kompetenzen des (Musik-)lehramtsstudiums.

Vertrautheit mit dem Unterrichtsgegenstand machte sich indessen als Prozessmerkmal im Umgang mit Musik und Bewegung bemerkbar: die Schüler*innen konnten durch eine Verinnerlichung über Bewegungen der Musik ohne Partitur folgen und den Ablauf benennen. In diesem Prozess steckten vermehrte Wiederholungen, die sich als methodisches Merkmal für das Erreichen von Vertrautheit in mehreren Portfolios herausarbeiten ließen.

In beiden Projekte war der Rollentausch bei den Studierenden vom Lernenden zum Lehrenden ein Element, das Oszillieren zwischen den drei Hauptkategorien im dualen Lern-Lehrarrangement ausleuchtete (Lentzen 2019). Antinomien wurden dadurch fruchtbar gemacht, dass Studierende erleben konnten, wie scheinbar paradoxe Anteile (z.B. Lenkung und Freiheit) einander wechselseitig bedingen können und nicht unauflösbar sind. Die hohe Gestaltungsfreiheit in den Projekten und der immer wieder neu zu reflektierende Gegenstand von Improvisation (mit Instrumentarium, durch Bewegung) zeigte den Wert ästhetischer Transformation (Sprache, Bild, Emotion in Musik, Musik in Bewegung, Musik in Bild). Besondere Momente der Tiefe des Ausdrucks in der vollzogenen Bewegung und der improvisierten Musik wurden aus der Sicht der Lehrkraft durch das emotionale Erleben in den Transformationen erreicht: „Also ich glaube wirklich, dass dieses emotionale Erleben eigentlich der Schlüssel war. Das war vielleicht das entscheidende andere auch in der letzten Sitzung, dann nochmal dieses Spielen, dieses Spüren, dieses, wie fühlt es sich an, wenn ich wütend bin, mit dem ganzen Körper und so. Weil ich selber schon die Beobachtung gemacht habe, im Umgang mit den hörgeschädigten Kindern, zum Beispiel im Rhythmikunterricht, dass sie oft nicht die Möglichkeit haben, wenn man ihnen eine Geschichte erzählt, innere Bilder aufzubauen.“ (Dialog Lehrkräfte WH, Pos. 46)

Auch die Studierenden benannten im Gruppenportfolio abschließend den Wert der ästhetischen Transformation: „Ein Moment der Tiefe in der Gestaltung ergab sich in der letzten Sitzung im Zusammenspiel mit den Instrumenten, der Bewegungsimprovisation und dem Vorlesen. Als mehrere Transformationen gleichzeitig miteinander interagierten: Erzählung in Musik und Erzählung in eine Bewegungsimprovisation.“ (Text 3, Pos. 33-38)

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Ina Henning (2025): Ästhetische Lern- und Lehrprozesse durch musikalische Improvisationen erfahrbar machen. In: KULTURELLE BILDUNG ONLINE: https://kubi-online.de/artikel/aesthetische-lern-lehrprozesse-durch-musikalische-improvisationen-erfahrbar-machen (letzter Zugriff am 27.04.2025).

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