Ästhetische Erfahrung
So selbstverständlich der Begriff des Ästhetischen im sowohl wissenschaftlichen wie auch alltagssprachlichen Diskurs verwendet wird, so schwierig ist es, den Begriff eindeutig zu definieren. Etymologisch leitet er sich aus dem griechischen Wort „aisthesis“ ab und bezeichnet „sinnlich vermittelte Wahrnehmung“. Mit seiner 1750 erschienenen „Aesthetica“ verankerte Alexander Gottlieb Baumgarten den Begriff in der philosophischen Diskussion und etablierte damit das Fach Ästhetik als wissenschaftliche Disziplin. Im Zuge der geschichtlichen Entwicklung des Begriffs ist zunächst eine Zuspitzung „von der Sinneswahrnehmung im allgemeinen zur Kunst im besonderen“ (Arnheim 1977:9) zu beobachten. Das bedeutet, dass durch mehr als zwei Jahrhunderte hindurch die Auseinandersetzung mit Fragen zur Kunst im Brennpunkt des Ästhetik-Diskurses stand. Im Zuge der Postmoderne schließlich wurde die Bedeutung des Begriffs wieder geweitet, indem einerseits eine verstärkte Besinnung auf die sprachgeschichtlichen Wurzeln und damit auf den allgemeinen Bezug zu den sinnlichen Wahrnehmungen stattfand und andererseits mit dem Schlagwort der Ästhetisierung der Lebenswelt der Geltungsbereich der Ästhetik über die Künste hinaus erweitert wurde. Wenn also im Folgenden von ästhetischer Erfahrung die Rede ist, so sind damit keineswegs nur Erfahrungen im Umgang mit Kunst gemeint, sondern darüber hinaus auch sinnlich-ästhetische Erfahrungen, die unabhängig von Kunstwerken gemacht werden können. Ästhetische Erfahrungen sind im Spannungsfeld zwischen Kunsterfahrungen und Alltagserfahrungen situiert. Da die Erfahrung von Kunst in gewisser Weise als modellhaft für ästhetische Erfahrungen insgesamt gesehen werden kann, steht sie im Zentrum der folgenden Überlegungen.
Merkmale ästhetischer Erfahrung
Um die Vielfalt möglicher ästhetischer Erfahrungen in den Blick zu bekommen, ist es wichtig, noch eine weitere Unterscheidung zu treffen. Ästhetische Erfahrungen ergeben sich nicht nur im rezeptiven Umgang mit vorhandenen Objekten (seien es Kunstwerke oder andere materielle und immaterielle Anlässe für Erfahrungen), sondern auch im produktiven Umgang, also dort wo etwas ästhetisch gestaltet wird. Im Konzept der ästhetischen Erfahrung sind ästhetische Rezeption und ästhetische Produktion gleichermaßen mitbedacht. Angesichts der Fülle unterschiedlicher Erfahrungen, die unter dem Begriff der ästhetischen Erfahrung subsumiert werden können, ist eine allgemeine und abschließende Definition nicht leistbar und auch nicht unbedingt wünschenswert – sie würde dem offenen Charakter des Ästhetischen widersprechen. Wenn im Folgenden Kernmerkmale der ästhetischen Erfahrung begrifflich benannt werden, so ist dies als Versuch zu werten, Besonderheiten ästhetischer Erfahrung bewusst zu machen – ohne den Anspruch auf Vollständigkeit und ohne den Anspruch, den „Wesenskern“ ästhetischer Erfahrungen zu erfassen. Im Sinne der von Ludwig Wittgenstein eingeführten Idee der „Familienähnlichkeit“ (Wittgenstein 1984:283; vgl. auch Welsch 1996:23f.) gibt es eben nicht die für alle Mitglieder einer Familie zutreffenden gemeinsamen Eigenschaften, sondern Familienmitglieder sind durch einander überlappende Eigenschaften miteinander verbunden. Bezogen auf ästhetische Erfahrungen bedeutet dies, dass die hier genannten Merkmale nicht immer alle gleichzeitig auftreten müssen, damit man von ästhetischer Erfahrung sprechen kann.
Synästhesie und Leiblichkeit
Ästhetische Erfahrung ist in der Sinnlichkeit der Wahrnehmung verankert, d.h. sie nimmt dort ihren Ausgang und bleibt stets auf die Sinne bezogen. Als besonderes Merkmal ästhetischer Wahrnehmung wird immer wieder ihr grundsätzlich synästhetischer Charakter genannt. Martin Seel spricht von der „latenten oder offenen Synästhesie“ ästhetischer Wahrnehmung (Seel 2003:59). Ähnlich sieht dies Dieter Mersch, wenn er die „ungeteilte“ Aufmerksamkeit ästhetischer Wahrnehmung thematisiert, die „noch vor der Zerlegung in Sondersensibilitäten wirksam wird“ (Mersch 2001:282).
Die ungeteilte, synästhetische Aufmerksamkeit hat mit der Leiblichkeit der ästhetischen Wahrnehmung zu tun. Zwar stellt die Leibbezogenheit eine grundlegende Bedingung jeder Art von Wahrnehmung dar (Maurice Merleau-Ponty spricht von den „Leibapriori“ der Sinnlichkeit, Merleau-Ponty 1974:239ff.), in der ästhetischen Wahrnehmung jedoch wird die Leiblichkeit selbst thematisch, das heißt die Präsenz des Leibes stellt eine zentrale und bewusste Erfahrensdimension dar. Die Leibbezogenheit der ästhetischen Wahrnehmung hat dabei eine doppelte Bezugsrichtung: zum einen ist damit der Körper des wahrnehmenden Subjekts angesprochen, zum anderen aber auch die „leibliche Präsenz“ (Mersch 2001:276) des wahrgenommenen Kunstwerks bzw. ästhetischen Objekts (siehe Doris Schuhmacher-Chilla „Körper – Leiblichkeit“).
Selbstzweck und Selbstbezüglichkeit
Im Unterschied zu sinnlichen Wahrnehmungserfahrungen im Alltag sind ästhetische Erfahrungen im gewissen Sinn frei von einer primären Bindung an äußere Aufgaben, Funktionen und Ziele. Das bedeutet nicht, dass ästhetische Erfahrungen keine Funktionen erfüllen (die möglichen Funktionen sind vielfältig: sie reichen über Unterhaltung, Bestätigung, Ausdruck bis zu Erkenntnis, um nur einige wenige zu nennen), aber die Beziehung, die wir in der ästhetischen Erfahrung zu Objekten aufbauen, unterliegt keiner einseitigen handlungsorientierten Zweckorientierung, sondern der Sinn und Zweck liegt in der Erfahrung selbst begründet. Immanuel Kant spricht vom „freien Spiel der Erkenntniskräfte“ (Kant 1790), Seel von der „Vollzugsorientierung“ der ästhetischen Erfahrung (Seel 1996:48).
Denkt man die Idee des Selbstzwecks konsequent weiter, so lässt sich daraus noch ein weiteres Merkmal ästhetischer Erfahrung ableiten: die Bezogenheit der Erfahrung auf sich selbst als Wahrnehmung. Gegenstand ästhetischer Wahrnehmung und Erfahrung ist nicht nur das Wahrgenommene, sondern gleichzeitig auch der Akt der Wahrnehmung selbst. In der ästhetischen Wahrnehmung nehmen wir also nicht nur etwas wahr, sondern wir nehmen den Prozess des Wahrnehmens und auch uns selbst als Wahrnehmende wahr. Die Selbstbezüglichkeit der ästhetischen Erfahrung wird im Umgang mit Kunst besonders deutlich. Erst wenn wir ein Bild als Bild wahrnehmen, ein akustisches Ereignis als Musik, kann man von ästhetischer Erfahrung sprechen.
Selbstbezug und Weltbezug
Die Selbstbezüglichkeit der ästhetischen Wahrnehmung führt direkt zu einem weiteren Merkmal ästhetischer Erfahrung: zum Ineinander von Selbst- und Weltbezug. Wann immer wir uns dem „ästhetischen Genuss“ hingeben, führt dies zu einem intensiven Erleben der eigenen Person. Die ästhetische Erfahrung erschöpft sich jedoch nicht nur im Akt intensiver Selbsterfahrung, ebenso wesentlich ist der Bezug zur äußerlich erfahrenen Wirklichkeit: sei es zum ästhetischen Objekt selbst wie auch ggf. zu der durch das Objekt vermittelten Wirklichkeit. (Von der doppelten Existenzweise von Kunst bzw. von ästhetischen Objekten wird weiter unten noch im Zusammenhang mit dem Zeichencharakter von Kunst die Rede sein.) In der ästhetischen Erfahrung gehen Ich-Erfahrung und Welt-Erfahrung eine Einheit ein. Hans Robert Jauß charakterisiert diese spezifische Art der Erfahrung als „Erfahrung seiner selbst in der Erfahrung des anderen“ und – pointiert formuliert – als „Selbstgenuß im Fremdgenuß“ (Jauß 1982:681).
An dieser Stelle stellt sich die Frage, inwiefern alle bisher genannten Merkmale im Grunde nicht auf jede Art der sinnlichen Wahrnehmung und Erfahrung zutreffen. Sind nicht auch nicht-ästhetische Wahrnehmungen in der „Einheit der Sinne“ (Plessner 1923/1965) und ihrer Leiblichkeit verankert? Schwingt nicht in jeder Wahrnehmung eines Anderen auch die reflexive Selbstwahrnehmung untergründig mit? Wenn dies auch tendenziell zutrifft, so bleibt doch zumindest ein gradueller Unterschied bestehen zwischen einer Wahrnehmungsweise, die z.B. auf ein Handlungsziel hin orientiert ist und sich aufgrund dieser Orientierung gleichsam selbst vergisst, und einer ästhetischen Wahrnehmung, die unabhängig von äußeren Zielen den Prozess des Wahrnehmens selbst genießt.
Eigenzeitlichkeit und Eigenräumlichkeit
Die Besonderheit ästhetischen Erfahrens zeigt sich in einer besonderen Art des Zeiterlebens. Bedingt durch die Bezogenheit der Wahrnehmung auf sich selbst, verliert die objektiv messbare „Außenzeit“ an Bedeutung. Ästhetische Erfahrungen ereignen sich im „Modus des Verweilens“ (Seel 1996:50), also in einer Art des Erlebens, in der der Gegenwart und dem Augenblick eine zentrale Rolle zukommen. In einem ähnlichen Sinn thematisiert Wolfgang Iser die „Gegenwärtigkeit des Ästhetischen“ (Iser 2003:176ff.) und spricht Dieter Mersch von der „Sensibilität des Augenblicks“ (Mersch 2001:279). Die besondere zeitliche Struktur der ästhetischen Erfahrung spielt auch bei Hans Ulrich Gumbrecht eine hervorgehobene Rolle. Ästhetische Erlebnisse zeichnen sich durch „Insularität und Plötzlichkeit“ aus, sie unterbrechen den Fluss der Zeit und werden von ihm als „Epiphanien“ charakterisiert (Gumbrecht 2003:204ff.). Ebenso wie in der ästhetischen Erfahrung die Zeit gewissermaßen angehalten werden kann, so kann die Zeit auch beschleunigt oder verlangsamt oder überhaupt außer Kraft gesetzt werden.
Der Bezogenheit auf die „ästhetische Präsenz“ (Seel 1996:48) entspricht auch ein besonderes Verhältnis zum Raum. Wenn wir uns einer ästhetischen Erfahrung hingeben, so begeben wir uns damit in ästhetische Räume, die von den faktischen Räumen durchaus unterschieden sind. Dies gilt gleichermaßen für literarische Räume, die wir bei der Lektüre eines Romans imaginativ betreten, wie für visuelle Räume, die sich bei der Betrachtung eines Bildes eröffnen, wie auch für musikalische Räume, die gewohnten Alltagsräumen einen völlig neuen Charakter verleihen können.
Eigenzeitlichkeit und Eigenräumlichkeit können als Begleiterscheinungen bestimmt werden, die sich aus der Idee des Selbstzwecks und der Selbstbezüglichkeit ästhetischer Wahrnehmung ergeben. Die Loslösung von der Bindung an äußere Zwecke und reflexive Bezugnahme auf sich selbst hat die Generierung von Zeit-Räumen mit eigenen Gesetzlichkeiten zur Folge.
Zwischen Ding- und Zeichencharakter der Welt
Ästhetische Erfahrungen sind durch einen doppelten Zugang zur Welt gekennzeichnet. Dieser wird besonders deutlich im Umgang mit Kunstwerken und ihrer „doppelten Existenzweise“ (Brandstätter 2008:74ff.). Zu den Besonderheiten von Kunstwerken gehört es, dass sie einerseits als Zeichen verstanden werden können, die auf Wirklichkeiten außerhalb ihrer selbst verweisen, dass sie aber andererseits auch Wirklichkeiten für sich darstellen: Ein Bild stellt etwas dar (eine Landschaft, eine Person, ein Farben-Formgefüge), gleichzeitig aber ist es als Objekt mit einer bestimmten Materialität erlebbar. Auch wenn der Zeichencharakter von Kunst – etwa bezogen auf stilistische Entwicklungen in der Bildenden Kunst im 20. Jh. oder bezogen auf bestimmte Kunstformen wie z.B. die Musik – nicht unumstritten ist, so ist unser abendländisches Verständnis von Kunst doch sehr stark von der Frage nach der „Bedeutung“ von Kunstwerken geprägt. Der Doppelcharakter von Kunstwerken wird in den ästhetischen Theorien vielfältig diskutiert. Dieter Mersch spricht in diesem Zusammenhang von der „Duplizität zwischen Materialität und Bedeutung“ (Mersch 2001:276). Es gibt eine „leibliche Präsenz“, die „ohne Regreß nicht wieder auf Zeichen rückführbar“ erscheint, „etwas, das nicht spricht, sondern sich nur zeigen kann“ (Mersch 2001:276). Während das „Sprechen“ des Kunstwerks seinen Zeichencharakter konstituiert, erschließen sich im Akt des „Zeigens“ seine primären sinnlichen und materialen Qualitäten. Dieses „Oszillieren zwischen Präsenz und Bedeutung“ (Gumbrecht 2003:210ff.) bzw. die Differenz zwischen „Präsenz und Repräsentation“ (Boehm 2003:95f.) kennzeichnet nicht nur Kunstwerke und den Umgang mit Kunstwerken, sondern ästhetische Erfahrungen insgesamt. Bedingt durch ihre unauflösbare Verankerung in der sinnlichen Wahrnehmung, führt die ästhetische Erfahrung immer wieder – auch dort, wo sie reflexiv wird und nach möglichen Bedeutungen fragt – in die Erfahrung der sinnlich-leiblichen Präsenz zurück.
Zwischen Differenz und Affirmation
Ästhetische Erfahrung wird oft als Differenzerfahrung charakterisiert – das Merkmal der Differenz ist dabei aus der Erfahrung mit Kunst abgeleitet. Im postmodernen Verständnis von Kunst spielt das Moment der „Verfremdung“ (im weitesten Sinn) eine besondere Rolle. Eine wesentliche Funktion von Kunst besteht demnach darin, traditionelle Wahrnehmungs- und Denkweisen aufzubrechen. Das Gewohnte wird in Frage gestellt, das Vertraute wird fremd gemacht, Irritationen sollen zu einer Umstrukturierung der Wahrnehmung und des Denkens führen. Wolfgang Welsch spricht von „Blitz, Störung, Sprengung, Fremdheit“ (Welsch 1998:39), um die irritierende Wirkweise ästhetischer Phänomene zu fassen; Rüdiger Bubner von der „Umkehr eingeschliffener Welterfahrung“ (Bubner 1989:118).
Die Orientierung der ästhetischen Erfahrung an einem bestimmten – differenzorientierten – Verständnis von Kunst läuft Gefahr, einseitig zu werden und Dimensionen der ästhetischen Erfahrung auszuklammern, denen es gerade nicht um Differenz, sondern vielmehr um Bestätigung und Affirmation geht. Zweifelsohne muss etwa das Hören von vertrauter Musik (das seine spezifische Lust aus dem Wiedererkennen von Bekanntem zieht) durchaus als mögliche ästhetische Erfahrung anerkannt werden, auch wenn daraus keine „neuen“ Wahrnehmungen und Erfahrungen erwachsen. Einen Gegenpol zur Differenzerfahrung stellt die von Seel so benannte „Ästhetik der Korrespondenz“ dar (Seel 1996:130f.).
Seel unterscheidet drei Arten der „Praxis der Kunst“ – damit meint er „jede menschliche Tätigkeit des wahrnehmenden oder herstellenden Umgangs mit Werken der Kunst“: die Ästhetik der Korresponsion (in deren Zentrum die ästhetische Gestaltung der Lebenswelt steht), die Ästhetik der Kontemplation (die in „sinnabstinenter Aufmerksamkeit“ aus der Alltagswirklichkeit herausführt) und die Ästhetik der Imagination (die sich im reflexiv bewussten Umgang mit Kunstwerken erfüllt) (Seel 1996:126-144). Die korresponsive ästhetische Praxis sucht – im Sinne der Gestaltung der eigenen Lebenswelt – nach Übereinstimmung. Ihr geht es gerade nicht um Differenzerfahrung, sondern um Korrespondenzen zwischen ästhetischem Objekt und der eigenen Lebenswelt bzw. dem eigenen Lebensgefühl. Um also die Vielfalt möglicher ästhetischer Erfahrungen in den Blick zu bekommen, muss das Spannungsfeld zwischen der Erfahrung von Differenz und der Erfahrung von Übereinstimmung bedacht werden.
Ästhetische Erfahrung und Sprache
Das Verhältnis der ästhetischen Erfahrung zur Verbalsprache stellt ein zentrales Thema des ästhetischen Diskurses dar. Ästhetische Erfahrung widersetzt sich in ihrer Bezogenheit auf die Sinnlichkeit in gewisser Weise dem sprachlichen Zugriff. Das im Rahmen der Erkenntnistheorie viel diskutierte Wechselverhältnis zwischen Anschauung und Begriff erfährt im Zusammenhang mit ästhetischen Fragestellungen eine besondere Brisanz. Die ästhetische Anschauung findet ihre Erfüllung niemals in definierenden Begriffen – das Einzigartige der ästhetischen sinnlichen Erfahrung kann niemals vom allgemeinen Charakter der Begriffe erfasst werden. Das heißt, die ästhetische Erfahrung bleibt begrifflich unbestimmbar, sie entzieht sich einer abschließenden begrifflichen Zuordnung. Damit ist die ästhetische Erfahrung in eine unaufhörliche Bewegung zwischen Anschauung und Begriff eingebunden. Bubner charakterisiert dieses zirkuläre Aufeinander-Verwiesensein von Anschauung und Begriff mit folgenden Worten: „Es entsteht eine Spannung, die sich zwischen der sinnlichen Bedürftigkeit und der begrifflichen Unbedürftigkeit bewegt“ (Bubner 1989:62). Die Unbestimmtheit und Unabschließbarkeit ästhetischer Erfahrung findet ihren Ausdruck in unabschließbaren Wechselspielen zwischen einmaligen, individuellen Wahrnehmungen und verallgemeinernden Begriffen. An dieser Stelle muss jedoch kritisch gefragt werden, ob die Verbalsprache tatsächlich hinlänglich beschrieben ist, wenn man ihren abstrahierenden, verallgemeinernden Charakter ins Zentrum der Aufmerksamkeit rückt. Verfügt die Sprache nicht auch über Möglichkeiten, das Besondere und Einmalige auf den Begriff zu bringen? Gibt es nicht auch eine Sprache, die sich ihrem Gegenstand (wie etwa der Kunst) annähert, indem sie sich ihm ähnlich macht? Die Möglichkeiten eines „mimetischen Sprechens“ (Brandstätter 2011) müssen mit bedacht werden, gerade auch wenn in pädagogischen Zusammenhängen die Sprache als Weg zum Verstehen von Kunst und zur Kommunikation über ästhetische Erfahrungen eingesetzt wird.
Ästhetische Erkenntnis
Die Überlegungen zum Verhältnis von ästhetischer Erfahrung und Sprache (von Anschauung und Begriff) führen mitten in grundsätzliche Fragen der Erkenntnistheorie. Kann ästhetische Erfahrung zu Erkenntnissen führen? Ist Kunst erkenntnisfähig? Dabei müssen zwei unterschiedliche Bezugspunkte ästhetischer Erkenntnis unterschieden werden: Zum einen richtet sich ästhetische Erkenntnis auf die Erkenntnis eines Kunstwerks selbst (seine Machart, seine Erscheinungsweise, seine Geschichte), zum andern können Kunstwerke aber auch zu Erkenntnissen führen, die über das Werk selbst hinausweisen. Ästhetische Erkenntnis bewegt sich also im Spannungsfeld zwischen Erkenntnis von Kunst (Kunst als Gegenstand der Erkenntnis) und Erkenntnis durch Kunst (Kunst als Mittel der Erkenntnis).
Die Idee der ästhetischen Erkenntnis blickt bereits auf eine lange Geschichte zurück. Am Anfang steht Baumgartens „Aesthetica“ und seine Theorie der „sinnlichen Erkenntnis“ (Baumgarten 1750/1988). Baumgarten setzte sich für die Besonderheiten der sinnlichen Erkenntnis als einer Erkenntnisform ein, in der sich der Gegenstand noch nicht in der Abstraktheit der begrifflichen fixierten Rationalität verflüchtigt. Die Auseinandersetzung mit den Erkenntnisfunktionen von Kunst stellt eine Konstante in der inzwischen über 250 Jahre alten Disziplin der Ästhetik dar: Sie findet sich in Kants Theorie der „ästhetischen Urteilskraft“ ebenso wie in Hegels Konzept des „sinnlichen Scheinens der Idee“, in Nietzsches Entlarvung der „Wahrheit als Illusion“ wie in Adornos Theorie der „mimetischen Rationalität“ (vgl. Brandstätter 2012). Gemeinsam ist all diesen Denkern, dass sie der Kunst einen eigenständigen Erkenntniswert zuerkennen, der sich von der wissenschaftlichen Erkenntnis unterscheidet. Zur Kennzeichnung der Unterschiede werden sowohl zeichentheoretische Aspekte ins Treffen geführt (vgl. Goodman 1973 und 1984) als auch allgemeine Überlegungen zu verschiedenen Formen des Denkens: So wird die Stärke der Kunst darin gesehen, ergänzend zum schlussfolgernden logischen Denken auch das vergleichende Denken in Ähnlichkeiten anzuregen (vgl. Brandstätter 2008:21ff).
In der aktuellen ästhetischen und auch hochschulpolitischen Diskussion stellt der Erkenntnischarakter von Kunst eine wichtige Fragestellung dar. Unter Schlagwörtern wie „artistic research“ oder „Künstlerische Forschung“ wird nach Möglichkeiten gesucht, die Erkenntnisformen der Wissenschaften und der Künste in einen neuen produktiven Zusammenhang zu bringen. Freilich ist der Erkenntnisstatus von Kunst keineswegs unumstritten. „Wahrheit ist keine überzeugende Leitkategorie zur Untersuchung ästhetischer Erfahrung“ – so kritisiert etwa der Literaturwissenschaftler Bernd Blaschke die aktuelle Konzentration auf erkenntnistheoretische Fragen (Blaschke 2004:14). Wie immer man sich gegenüber der Frage der ästhetischen Erkenntnis positioniert, Einigkeit scheint darüber zu bestehen, dass ästhetischen Erfahrungen gerade in unserer aktuellen Welt eine besondere Bedeutung zukommt.
Der Modellcharakter ästhetischer Erfahrung
„Meine These lautet, daß ästhetisches Denken gegenwärtig das eigentlich realistische ist“ (Welsch 1996:142) – damit will Welsch auf den Umstand verweisen, dass angesichts einer Wirklichkeit, die immer stärker ästhetische Züge annimmt, der bewusste ästhetische Umgang mit der Welt der eigentlich adäquate ist. Die Omnipräsenz der Medien und damit die grundsätzlich mediale Vermitteltheit der Welt hat dazu geführt, dass wir immer weniger in der Lage sind, zwischen Fiktionen und Realität zu unterscheiden. Inzwischen haben wir es nicht mehr mit der „einen, wirklichen“ Realität zu tun, sondern stattdessen mit einer Fülle verschiedener Wirklichkeiten. Genau diesen Umgang mit unterschiedlichen, auch widersprüchlichen Wirklichkeiten vermag uns die Kunst zu lehren: Wenn wir uns auf ästhetische Phänomene einlassen, lernen wir, mit Pluralität, Heterogenität, Differenzen und Widersprüchen umzugehen. In ästhetischen Erfahrungen wird uns bewusst, dass die Wirklichkeiten, in denen wir leben, in gewisser Weise nur „Bilder mit Rahmen“ sind, die jederzeit durch andere „Bilder“ mit anderen „Rahmen“ ersetzt werden können.
Ästhetische Erfahrungen haben aber auch noch in einem anderen Sinn Modellcharakter. Sie sind in der Sinnlichkeit der Wahrnehmung verankert, drängen aber zur reflexiven Verarbeitung, ohne dabei den Bezug zur Körperlichkeit zu verlieren. In ästhetischen Erfahrungen erleben wir uns selbst und die Welt gleichzeitig und werden zu vielfältigen Wechselspielen angeregt: zwischen Sinnlichkeit und Reflexion, zwischen Emotionalität und Vernunft, zwischen Bewusstem und Unbewusstem, zwischen Materialität und Zeichencharakter, zwischen Sagbarem und Unsagbarem, zwischen Bestimmtem und Unbestimmtem. Vielleicht ist die grundsätzliche Offenheit, die diese Wechselspiele ausmacht, modellhaft für menschliches Erfahren, Erleben und Erkennen überhaupt.
Dies hat Konsequenzen für ein Konzept Kultureller Bildung. Kulturelle Bildung in diesem Verständnis bedeutet: Rahmenbedingungen zu schaffen für ästhetische Erfahrungen in einem umfassenden, viele Dimensionen des Menschseins aktivierenden Sinn.